Kein Wellnessprogramm, keine Selbstoptimierung:
Spiritualität in schwierigen Zeiten

Spiritualität ist überall. In Wellness-Magazinen. In Apps. In Ratgebern.
Entspannung für den gehetzten Alltag wird versprochen.
Ruhe für die erschöpfte Seele.
Aber ist das alles?

Vielleicht kennen Sie das: Sie suchen nach Kraft, nach Halt, nach etwas, das trägt.
Besonders dann, wenn das Leben schwer wird.
Wenn Pläne zerbrechen.
Wenn nichts mehr so ist, wie es war.

Der Weg nach oben

Viele Menschen suchen Spiritualität wie einen Aufstieg.
Sie wollen durch Meditation stärker werden.
Durch Gebet näher zu Gott kommen.
Durch Anstrengung besser werden.

Doch dieser Weg birgt eine Gefahr.
Denn erneut geht es um meine Leistung und Selbstoptimierung.
Hat mich nicht gerade das in meine aktuelle Lebenssituation gebracht?

Der Weg nach unten

Es gibt daneben einen anderen Weg.
Einen, der nicht hinauf führt, sondern hinunter.
Gott ist oft dort zu finden, wo unsere Kraft versagt.
Wo wir mit all unseren Bemühungen gescheitert sind.

„Aus der Tiefe rufe ich, Herr, zu dir. Herr, höre auf meine Stimme!
Lass deine Ohren aufmerken auf die Stimme meines Flehens!“

Die Bibel in Psalm 130,1+2

Dieses uralte Gebet formuliert diese Sehnsucht, die in der Tiefe erwacht.
„Aus der Tiefe rufe ich, Herr, zu dir.“
Nicht aus der Höhe.
Nicht aus dem Erfolg.
Nicht aus der Stärke.
Aus der Tiefe.
Dort, wo die Risse meines kunstvollen Lebensgebäudes sind.
Dort, in der Tiefe, werden wir offen für eine Begegnung mit den Ursprüngen des Lebens.

„Meine Seele wartet auf den Herrn mehr als die Wächter auf den Morgen.“

Die Bibel in Psalm 130, 6

Wenn Kämpfen sinnlos wird

Scheitern kann uns neue Wege zeigen.
Zur Erkenntnis: Wir können nicht alles kontrollieren.
Zur Entscheidung: Loslassen ist manchmal der einzige Weg.
In solcher Kapitulation geschieht oft etwas Neues.
Das Leben öffnet sich für etwas Größeres.
Für eine Kraft, die nicht aus uns selbst kommt.

Krankheit als Weg

Wenn der Körper nicht mehr mitspielt.
Wenn die Seele erschöpft ist.
Wenn alle Pläne zunichte werden.
Dann kann Sinnlosigkeit zur Sinnsuche werden.
Trauer über verlorene Gesundheit zur Sehnsucht nach tieferem Heil.
Sie müssen nicht stark sein.
Sie müssen nicht alles schaffen.
Sie dürfen schwach sein.

Wo Gott durchbricht

Spiritualität in schwierigen Zeiten setzt bei Grenzerfahrungen an.
Beim Scheitern.
Bei der Ohnmacht.
Beim Verlust.
Bei der Verwundung.
Dort, wo unser Ego aufbricht, hat Gottes Licht eine Chance zu uns durchzudringen.

„Ring the bell, that still can ring. Forget your perfect offering.
There is a crack in everything. Thats how the light gets in.“

„Läute die Glocken, die noch läuten. Vergiss dein perfektes Opfer.
Es gibt einen Riss in allem. So dringt das Licht ein.“

Diese Zeilen stammen aus Leonard Cohens Song „Anthem“ aus dem Album „The Future“ von 1992.

Was Leonard Cohen hier in wenigen Worten ausdrückt, haben viele erfahren:
Wir müssen keine perfekten Menschen sein, um Gottes Nähe zu erfahren.
Gerade unsere Verletzlichkeiten können Orte werden, wo Gnade geschieht.
Gottes Licht kommt oft durch die Risse im kunstvollen Lebensgebäude zu uns.
Manchmal müssen wir erst ganz unten ankommen, um zu entdecken:
Er ist schon da. Er wartet auf uns. In der Tiefe unseres Lebens.
Nicht als Wellness-Programm. Nicht als spirituelle Selbstoptimierung.
Sondern als Begegnung mit dem, der uns trägt.

Dieser Text orientiert sich an: A.Grün, Meinrad Dufner, Spiritualität von unten, Münsterschwarzach 1994