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17. August 2025: „Die Unabhängigkeitserklärung des Herzens“. Ein Gedanke zur Vaterunser-Reihe


17. August 2025: „Die Unabhängigkeitserklärung des Herzens“.
Ein Gedanke zur Vaterunser-Reihe

Eine Predigt über das Vergeben

„Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern.“

Einstieg

„Muss ich immer vergeben?“ Diese Frage, die mir vor einigen Jahren gestellt wurde, klingt mir noch im Ohr. Die Fragende hatte Schlimmes erlebt, war tief verletzt worden.

Und im Vaterunser heißt es, dass uns die Schuld vergeben wird, so wie wir anderen vergeben. Da kommt leicht der Gedanke: Ich müsste doch bereit sein zu vergeben.

Diese Frage zeigt den moralischen Druck, der an dieser Stelle oft entsteht.

Heute möchte ich mit Ihnen einen anderen Blick auf die Vergebung wagen – einen Blick, der nicht umsonst unter dem Titel steht: „Unabhängigkeitserklärung des Herzens“.

Ich weiß, dass dies gerade hier in der Klinik ein sensibles Thema ist.
Deshalb lade ich Sie ein: Lesen Sie die Predigt gern auf der Webseite noch einmal nach. Schreiben Sie mir Ihre Gedanken im Kontaktformular oder sprechen Sie mich persönlich darauf an.

Ob Sie sich über die Predigt ärgern, ihr zustimmen oder mehr Fragen als Antworten haben – ich höre Ihnen zu.
Das gilt zwar für jede Predigt, aber an dieser sensiblen Stelle ist es mir besonders wichtig.
Und wir können gerne darüber ins Gespräch kommen.

Erster Gedankengang: Wenn Groll zur Fessel wird

So schwer uns manchmal das Vergeben fällt – wir ahnen auch, wie sehr es uns selbst entlasten könnte. Manchmal spüren wir es deutlich: Dieser Groll gegen einen Menschen liegt wie ein schwerer Stein auf unserer Seele. Jemand sagte einmal: Groll zu haben ist wie einen glühenden Kohlebrocken in der Hand zu halten, in der Hoffnung, ihn später nach dem anderen werfen zu können – am Ende verbrennen wir uns nur selbst die Finger.

„Ich lasse los, damit es nicht länger mein Leben bestimmt.“

Vergebung wird dann nicht zur moralischen Pflicht, sondern zur Befreiung. Für uns selbst.

Zweiter Gedankengang: so wie wir…

Was bedeutet eigentlich diese Bitte „wie auch wir vergeben unseren Schuldigern“?

Das kleine Wort „wie“ kann im ursprünglichen Griechisch zweierlei bedeuten: als Vergleich („so wie wir“) oder als Maßstab („befähige uns dazu“).Aber Jesus geht es, wenn er über Gott redet, nie um den Deal:“Wenn ich anderen vergebe, dann wirst du mir auch vergeben“.

Es ist eine Bitte um Befähigung: „Lass mich so von deiner Vergebung geprägt sein, dass auch ich vergeben kann. Gib mir die Kraft dazu, weil du mir schon vergeben hast.“ Also im Sinn: Vergib mir meine Schuld, so dass ich dann in der Lage bin, auch anderen zu vergeben.

Gott vergibt unabhängig von menschlicher Leistung.
Die Versöhnung zwischen Menschen bleibt dann eine eigene, menschliche Aufgabe –
eine Möglichkeit, nicht eine Bedingung.

Gottes Vergebung ist das Geschenk, das vorausgeht. Sie ist nicht verdient und nicht erarbeitet. Sie ist da. Bedingungslos. Und aus dieser Erfahrung heraus kann – nicht muss! – Vergebung wachsen.

Dritter Gedankengang: Was Vergebung ist – und was nicht

Vergebung ist nicht dasselbe wie Versöhnung.

Vergebung ist ein innerer Schritt, der mich frei macht. Ich halte nicht mehr fest, was zwischen mir und dem anderen steht. Versöhnung dagegen ist ein gemeinsamer Weg – sie braucht zwei Menschen, braucht Vertrauen und oft auch Wiedergutmachung.

Manchmal bleibt Versöhnung trotz Vergebung unmöglich:
weil ich mich vor der Übergriffigkeit eines Menschen schützen muss,
oder weil der andere Mensch nicht mehr erreichbar ist.

Vergebung bedeutet nicht, dass Sie Nähe herstellen müssen. Vergebung bedeutet nicht, dass Sie Kontakt aufnehmen müssen. Sie dürfen Ihre Grenzen schützen.

Vergebung heißt auch nicht, die Tat zu verharmlosen. Die Verantwortung bleibt bestehen.
Vergebung streicht die Tat nicht aus der Welt – sie löst nur deren Griff um Ihr Herz.

Manchmal hofft man insgeheim: Wenn ich sage „Ich vergebe dir“, wird der andere sagen „Es tut mir leid“.
Aber oft geschieht das nicht. Vergebung kann den anderen nicht zu etwas zwingen.
Aber das ändert nichts am Sinn der Vergebung: Sie lassen los – unabhängig davon, wie der andere reagiert.

Vierter Gedankengang: Die Unabhängigkeitserklärung des Herzens

Der Kern dieser Befreiung ist: Ich lasse mich nicht davon bestimmen.

Vergebung bedeutet nicht, kleinzureden, was mich verletzt hat.
Sondern zurückzuholen, was mir gehört: die Deutungshoheit über mein Leben.

Fünfter Gedankengang: Ein Weg, der wächst wenn man ihn geht.

Diese Freiheit entwickelt sich oft schrittweise. Vergebung ist wie ein neuer Pfad durch hohes Gras: Am Anfang kaum erkennbar, erst nach vielen Schritten wird er gangbar. Manchmal gehen wir voran, manchmal zurück – aber jeder Schritt prägt die Spur ein wenig tiefer.

Heute vielleicht ein Millimeter. Morgen zwei. Und an manchen Tagen nur der Entschluss, sich selbst nicht zu verurteilen.

Es kann sein, dass Vergebung noch nicht möglich ist.
Es kann sein, dass sie nie möglich sein wird. Auch das ist in Ordnung.

Sie sind frei – frei zu vergeben oder frei, dort zu bleiben, wo Sie jetzt sind. Ich vertraue darauf, dass Gott das klären kann, was ich nicht verändern kann. Auch meinen tiefen Schmerz über das, was ich nicht vergeben kann vertraue ich Gott an.

Diese Freiheit ist das Geschenk, das in den Worten „wie auch wir vergeben“ verborgen liegt. Nicht als Zwang, sondern als Möglichkeit. Als Weg in ein Leben, das sich heute neu entscheiden kann – und nicht vom Gestern gefangen bleibt.

„Muss ich vergeben?“, fragte damals die Frau.

Nein, Sie müssen nicht.
Aber Sie haben die Freiheit, sich auf den Weg zu machen –
in kleinen, behutsamen Schritten.

Amen

Fragen zur persönlichen Reflexion
für das eigene Nachdenken,
das Tagebuch
oder ein vertrauensvolles Gespräch

Meditativer Nachklang
Mach meine Hände und mein Herz frei


Vergib mir – und lehre mich, zu vergeben.
Lass deine Großzügigkeit in mein Herz übergehen,
damit der Groll in mir keine Wurzeln schlägt.

Wie ich von deiner Barmherzigkeit lebe,
so lass auch in mir Barmherzigkeit wachsen.

Mach meine Hände und mein Herz frei,
damit sie nicht festhalten, was mich beschwert.

Amen.

Für alle, die Lust haben auf mehr: Gedanken und Bausteine, die übrig blieben beim Vorbereiten

Manchmal bleiben beim Vorbereiten der Andachten oder Predigten ein paar Gedankenspltter übrig. Sie passen irgendwie nicht so richtig hinein, aber sie sind zu schade, sie zu vergessen.
Hier finden Sie etwas davon.

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Das Vaterunser findet sich bei Matthäus und Lukas, jedoch mit leicht unterschiedlichem Wortlaut, weil sie die Vorlage in der Muttersprache Jesu (Aramäisch) verschieden übersetzt haben. Matthäus benutzt das griechische Wort opheilēmata („Schulden“) – ein Begriff aus der Wirtschaftssprache, als ob Sünde eine Art Rechnung wäre, die beglichen werden muss.
Lukas schreibt dagegen hamartia („Sünde, Verfehlung“), was eher das Verfehlen eines Ziels meint. Diese unterschiedlichen Wortwahlen zeigen: Schon die ersten Christen haben um das beste Verständnis von Schuld und Vergebung gerungen.

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„Siebenmal siebzig“ (Mt 18,22) ist Jesu Antwort auf Petrus‘ Frage, ob siebenmaliges Vergeben nicht schon großzügig genug sei. Jesus steigert die Zahl ins Unendliche und kontert damit die Logik der Rache (Gen 4,24). Jesus dreht diese Spirale der Vergeltung um in eine Spirale der Vergebung. Er führt diese Logik ad absurdum. Es geht ihm eben nicht ums Zählen, sondern um eine grundsätzlich andere Haltung dem Leben gegenüber. Gott ist kein Buchhalter, der mit einer Strichliste unsere Vergebungsbereitschaft abzählt.

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Augustinus, einer der einflussreichsten Kirchenväter, betont: Die Bitte im Vaterunser formt vor allem eine Haltung des Herzens. Vergebung muss nicht sofort vollzogen sein, sondern darf wachsen. Sie ist ein Seelenweg, der Zeit braucht – manchmal Jahre oder ein ganzes Leben. Augustinus kannte aus eigener Erfahrung, wie schwer hier Veränderung ist. Seine Einsicht: Gott hat Geduld mit unserem Wachstum, und wir dürfen sie auch mit uns selbst haben.