Sonntagsweite
Die Kunst des Wartens
(22. Juni 2025)
MORGENGEBET
Gott des neuen Tages,
du schenkst uns diese Stunden wie einen weiten Raum.
Öffne unser Herz für das Geheimnis deiner Zeit.
Lass uns vertrauen, auch wenn wir nicht verstehen.
Lass uns leben, auch wenn wir noch warten.
Denn du bist da – in jedem Atemzug,
in jeder Pause zwischen Gestern und Morgen.
Amen.
PSALMTEXT
Meine Zeit steht in deinen Händen.
Errette mich von der Hand meiner Feinde
und von denen, die mich verfolgen.
Lass dein Angesicht leuchten über deinem Knecht,
hilf mir durch deine Güte!
Herr, lass mich nicht zuschanden werden,
denn ich rufe dich an.Psalm 31,16-18 (BasisBibel)
SEGEN
Es segne dich Gott in der Zeit des Wartens.
Schenke dir die Weisheit des Predigers:
zu leben, ohne alles verstehen zu müssen,
zu vertrauen, ohne alles zu durchschauen,
dich zu freuen, auch wenn noch nicht alles gut ist.
Du bist getragen von einer Liebe, die größer ist als alle Zeit.
– auch heute, auch hier.
Amen. So sei es.
BIBELTEXT
„Für alles gibt es eine bestimmte Stunde. Und jedes Vorhaben unter dem Himmel hat seine Zeit: (…) Eine Zeit zum Pflanzen und eine Zeit zum Ernten. Eine Zeit zum Weinen und eine Zeit zum Lachen.“
„Alles hat Gott so gemacht, dass es schön ist zu seiner Zeit. Auch hat er den Menschen ans Herz gelegt, dass sie sich um die Zeiten bemühen. Nur kann der Mensch das alles nicht begreifen, was Gott von Anfang bis Ende tut.“
„Da erkannte ich: Es gibt kein größeres Glück für den Menschen, als dass er sich seines Lebens freut. Ja, das ist sein Anteil. Denn wer kann ihn dazu bringen, dass er Einblick in die Zukunft gewinnt?“
(Prediger 3,1-2.11.22, Basis-Bibel und Luther-Übersetzung)
HAUPTIMPULS
Die Zeit arbeitet für dich – auch wenn du es nicht siehst.
Zwischen Einatmen und Ausatmen liegt ein winziger Moment der Stille. Die Zen-Meister nennen ihn die Pforte zur Ewigkeit. Dort, wo nichts geschieht und doch alles möglich wird. Dort, wo das Warten aufhört, Qual zu sein, und beginnt, Geschenk zu werden.
Wir leben in einer Welt, die Geschwindigkeit belohnt. Amazon Prime verspricht Lieferung binnen Stunden. Google gibt Millionen Suchergebnisse in Sekunden. Warten gilt als Zeitverschwendung, als Schwäche. Aber was, wenn das Warten selbst der Weg ist?
Der Prediger Salomo kannte dieses Geheimnis: “Alles hat seine Zeit”, schreibt er. “Eine Zeit zum Pflanzen und eine Zeit zum Ernten. Eine Zeit zum Weinen und eine Zeit zum Lachen.” Doch dann fügt er etwas Entscheidendes hinzu: “Gott hat alles schön gemacht zu seiner Zeit. Auch hat er die Ewigkeit in der Menschen Herz gelegt. Nur dass der Mensch nicht ergründen kann das Werk, das Gott tut, weder Anfang noch Ende” (Prediger 3,1.11).
Diese Erkenntnis könnte verzweifeln lassen. Wir verstehen Gottes Zeiten nicht. Wir durchschauen den größeren Plan nicht. Aber der Prediger zieht eine überraschende Schlussfolgerung: “So sah ich denn, dass nichts Besseres ist, als dass der Mensch fröhlich sei in seinem Tun. Denn das ist sein Teil” (Prediger 3,22).
Wenn wir Gottes Zeiten nicht verstehen können – dann bleibt uns, das Leben zu lieben. Die Zeiten zu nehmen, wie sie kommen. Uns zu freuen an dem, was ist. Das ist keine oberflächliche Wellness-Philosophie. Das ist tiefe Weisheit.
Thomas Merton, der große Mystiker, beschreibt diesen Weg so:
“Es gibt in unserem Leben einen Punkt, an dem Gott uns bittet, alles loszulassen, was wir für sicher gehalten haben, und zu lernen, ihm in der Dunkelheit zu vertrauen” (Merton, Thomas: Gedanken in der Einsamkeit. Aus dem Amerikanischen von Rudolf Walter. Freiburg im Breisgau: Herder, 1985, S. 79.).
Merton kannte diese Dunkelheit aus eigener Erfahrung. Jahre der geistlichen Trockenheit. Zeiten, in denen Gott schwieg. Aber gerade dort entdeckte er ein Vertrauen, das nicht auf Verstehen angewiesen ist. Eine Gewissheit, die tiefer liegt als alle Erklärungen.
Dein Warten ist nicht leer. Es ist der Raum, in dem Heilung geschehen kann. Die Pause, in der du dich neu sammelst. Der Moment, in dem du lernst loszulassen.
Impulse (zum Nach-Denken, fürs Tagebuch oder ein Gespräch):
– Was wäre, wenn das, worauf du wartest, bereits in dir zu wachsen
beginnt – auch wenn du es noch nicht siehst?
– Wer aus deinem Umfeld würde am ehesten bemerken, wenn sich deine Art zu warten verändert – und was würde diese Person dann an dir anders erleben?