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27. August 2025: „Mehr als mein Bitten“.
Ein Gedanke zur Vaterunser-Reihe

Mehr als mein Bitten

Eine Andacht zum Abschluss des Vaterunsers

„Denn dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit.“

Seltsame Worte am Ende eines Gebets, das uns durch alle Tiefen geführt hat.
Wir haben um Brot gebeten, um Vergebung gerungen, um Schutz vor dem Bösen gefleht –
und nun das: Reich, Kraft, Herrlichkeit.

Worte, die nicht von Jesus stammen

Und dann diese Entdeckung:
Diese Zeilen stehen in keiner einzigen der wirklich alten Handschriften der Evangelien.
Jesus hat sie wahrscheinlich nie gesprochen in diesem Zusammenhang
Und die Evangelisten Matthäus und Lukas, die uns das Vaterunser überliefern, hatten sie nicht in Ihrem Text.
Erst in späteren Abschriften tauchen diese Worte auf.
Die frühen Christinnen und Christen haben sie dem Gebet hinzugefügt.
Und sie haben sie entlehnt aus einem uralten Lobgesang König Davids
aus dem ersten, dem sogenannten Alten Testament.

Warum das?
Wir können es nur vermuten, erahnen:
Nach allem Bitten braucht es einen Ort, wo die Seele zur Ruhe kommt.
Einen Ort jenseits unserer Wünsche und Ängste.
Etwas, das den Bitten dieses Gebetes eine Erinnerung anfügt,
wo unsere Sehnsucht ihren Ursprung hat.
Also fügten sie hinzu, was ihnen fehlte.
Aus der Tradition schöpfend, aber mutig gestaltend.

Das zeigt etwas Wunderbares:
Glaube entwickelt sich.
Spiritualität wächst.
Wie unser Leben.
Menschen aller Zeiten dürfen das, was sie empfangen haben,
weiterdenken, vertiefen, verwandeln.
Vielleicht gerade auch mit den Worten einer uralten Tradition,
die plötzlich neu passt.

Auch wir dürfen das.
Auch wir dürfen alte Worte mit neuem Leben füllen.
Auch wir dürfen neuen Erfahrungen neue Worte verleihen.
Oder auch alte Worte neu zusammenfügen.
Und unsere neue Erfahrungen mit der Weisheit der Mütter und Väter des Glaubens abgleichen.

Vielleicht kennen Sie das:
Was früher gepasst hat, trägt heute nicht mehr.
Was einmal Kraft gab, fühlt sich leer an.
Was andere als wahr verkünden, berührt Sie nicht mehr.
Aber es ist nicht fort.
Es hat sich weiterentwickelt.

Mein Glaube wächst mit meinem Leben.

Ist das Verlust – oder Wachstum?

Es darf sein. Glaube darf sich verändern.
Mehr noch: er wandelt sich.
Und bewahrt doch das Vertraute in sich.
Wie ein Baum, der neue Ringe ansetzt, ohne die alten zu verleugnen.

Die verwandelnde Kraft des Lobpreises

Diese Zeilen sind also kein frommes Anhängsel.
Sie geben dem, was wir vorher gesagt haben eine neue Kraft.
Sie sagen nicht: „Egal, was passiert – Hauptsache, Gott wird gepriesen.“
Sie sagen: „Alles, was wir durchleben
– die Freude und der Schmerz, das Gelingen und das Scheitern –,
steht in einem Licht, das größer ist als wir selbst.“

Unsere Bitten um Brot werden zu Dankbarkeit für das, was uns nährt.
Unsere Sehnsucht nach Vergebung wird zu Staunen über eine Liebe, die keine Grenzen kennt.
Unser Flehen um Schutz wird zu Vertrauen in eine Macht, die das letzte Wort behält.

Ein Gebet für die Zweifelnden

Wer diese Worte nicht glauben kann – verständlich.
Reich, Kraft und Herrlichkeit.
Diese Worte sind in unserer Welt oft missbraucht worden.
Gerade auch in den Kirchen.

Aber vielleicht ist gerade das der Punkt:
Diese Worte sagen uns, wem Reich, Kraft und Herrlichkeit wirklich gehören.
Nicht den Mächtigen dieser Welt.
Nicht den Systemen der Unterdrückung.
Nicht den Stimmen in unserem Kopf, die uns klein machen wollen.

Sondern dem Geheimnis, das wir Gott nennen.
Der Kraft der Liebe.
Der stillen Herrlichkeit des Lebens selbst.

Wenn wir diese Worte sprechen, werden wir zu Menschen,
die das letzte Wort nicht der Verzweiflung überlassen.
Die auch in der Dunkelheit ein Licht ahnen.
Die auch im Chaos eine Ordnung spüren,
die größer ist als alles Verstehen.

Mut zum Leben

Diese Worte sagen:
Das Geheimnis, das größer ist als alle unsere Worte dafür,
hält auch unser Ringen aus.
Unsere Entwicklung.
Unser Weitergehen.

Vielleicht ist es gerade das, was Glauben lebendig hält:
nicht das Festhalten an alten Formeln,
sondern das Vertrauen, dass wir neue Wege gehen dürfen.
Mit neuen und alten Worten,
in denen unsere Erfahrungen sich widerspiegeln.
In denen die Erfahrungen, das Ringen, die Tränen und die Weisheit
der Väter und Mütter des Glaubens auch ihren Platz haben.

Ein Vertrauen, das seine Kraft bezieht aus dem Wissen des Herzens:
Gott,
dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit.

Amen.

Fragen zur persönlichen Reflexion
für das eigene Nachdenken,
das Tagebuch
oder ein vertrauensvolles Gespräch

Meditativer Nachklang


Du, dessen Namen wir nicht fassen,
dessen Reich wir nur erahnen,
dessen Kraft durch unsere Schwäche fließt
wie Wasser durch rissige Gefäße –

Dir gehört
was wir nicht halten können:
die Zeit, die uns zerrinnt,
die Kraft, die uns verlässt,
die Schönheit, die uns entgleitet.

Dir gehört
das Reich der stillen Momente:
wenn Atmen wieder leichter wird,
wenn Hoffnung aufkeimt
in der Müdigkeit des Alltags.

Dir gehört
die Kraft des Loslassens:
Nicht die Macht über andere,
sondern die Macht,
sich fallen zu lassen in das große Ja des Lebens.

Dir gehört
die Herrlichkeit des Alltäglichen:
die stärkende Hand auf der Schulter,
das Licht, das durch die Seele tanzt,
der Mut, noch einmal zu vertrauen.

In Ewigkeit – das heißt:
schon jetzt, schon hier,
schon in diesem Atemzug,
der uns geschenkt ist ohne Gegenleistung.

Amen – das heißt:
Ja zu dem, was größer ist als unsere Angst.
Ja zu dem, was tiefer reicht als unsere Wunden.
Ja zu dem, was länger währt als unsere Zeit.
So sei es. So ist es. So wird es sein.
Amen.

Schweigen.
Atmen.
Vertrauen.

Für alle, die Lust haben auf mehr: Gedanken und Bausteine, die übrig blieben beim Vorbereiten

Manchmal bleiben beim Vorbereiten der Andachten oder Predigten ein paar Gedankenspltter übrig. Sie passen irgendwie nicht so richtig hinein, aber sie sind zu schade, sie zu vergessen.
Hier finden Sie etwas davon.

54blog

Die Begriffe „Reich“ (basileia), „Kraft“ (dynamis) und „Herrlichkeit“ (doxa) werden in feministischen und befreiungstheologischen Kreisen kritisch hinterfragt, da sie historisch mit Herrschaftsstrukturen verbunden sind. Alternative Formulierungen wie „Zärtlichkeit“ statt „Herrlichkeit“ oder „Fülle“ statt „Reich“ zeigen kreative Umgangsweisen mit problematischen Machtbildern, ohne die Grundstruktur des Lobpreises aufzugeben. Welche neuen Worte sind mir/uns wichtig?