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3. September 2025: „Nein und Amen“.
Ein Abschlussgedanke zur Vaterunser-Reihe

Nein und Amen

Am Ende jedes Vaterunsers steht ein kleines, großes Wort: Amen.
Die Gemeinde spricht es.
Die Liturgie erwartet es.
Aber ich?
Ich spreche das Amen so schnell noch nicht.

Was bedeutet eigentlich das Amen?

„Amen“ – das ist ein uraltes hebräisches Wort.
Es bedeutet: fest, zuverlässig, gewiss.
Es bedeutet: „So ist es“ oder „So sei es.“
Es ist wie eine Unterschrift unter ein Dokument.
Wie ein Ja-Wort zu allem, was vorher gesagt wurde.

In der Liturgie ist es klar geregelt:
Der Priester, die Pfarrerin spricht das Gebet, und die Gemeinde antwortet mit „Amen.“
Ein Wechselspiel zwischen Vorbeten und Zustimmen.

Aber was, wenn ich nicht zustimmen kann?
Was, wenn manche Worte des Vaterunsers mich schmerzen statt trösten?

„Vater unser im Himmel“ – was, wenn das Wort „Vater“ Wunden öffnet statt sie zu heilen?
„Dein Wille geschehe“ – was, wenn dieser Wille mir fremd und hart erscheint?
Soll ich trotzdem „Amen“ sagen?
Soll ich zu allem „Ja und Amen“ sagen, auch wenn mein Herz Nein sagt?

Klage gehört zu Gott


Ich glaube nicht, dass wir zu allem Ja sagen müssen.
Spirituelle Ehrlichkeit bedeutet nicht, alles zu schlucken und zu allem zu nicken.
Es ist ein Erwachsensein im Glauben.

Denn Gott nimmt uns nicht an,
weil wir fromm genug beten oder das richtige Amen sprechen.
Er nimmt uns an aus Gnade.
Punkt.

Das befreit uns von religiösem Zwang.
Wir müssen nicht mehr so tun, als hätten wir alles verstanden.

Klage gehört zur Bibel – sie gehört zu Gott.
Die Psalmen sind voll davon.
Hiob ist ein ganzes Buch der Anklage.
Jesus selbst schreit am Kreuz: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“

Wer klagt, rechnet noch mit Gott.
Wer zweifelt, nimmt Gott noch ernst.
Wer sich auflehnt, ist noch im Gespräch.

Das Gegenteil von Glaube ist nicht Zweifel – es ist Gleichgültigkeit.

Wenn Sie hier sitzen und sich schwer tun mit dem Vaterunser, dann sind Sie vielleicht näher bei Gott, als Sie denken.
Dann nehmen Sie ihn ernst genug, um ehrlich zu sein.
Dann lieben Sie ihn genug, um mit ihm zu kämpfen.

Das Nein und Amen

Deshalb darf ich manchmal „Nein und Amen“ sagen.
Nein zu dem, wie die Welt ist – und Amen zu dem, der sie verwandeln kann.
Nein zu falschen Gottesbildern – und Amen zu dem wahren Gott, den ich noch suche.

Hören Sie, wie das klingen könnte:

„Geheiligt werde dein Name“ – Nein zu dem Missbrauch deines Namens, zu der Gewalt, die in deinem Namen geschehen ist.
Und Amen zu deiner Heiligkeit, die größer ist als alle Verzerrung.

„Dein Reich komme“ – Nein zu dieser Welt voller Ungerechtigkeit und Schmerz.
Und Amen zu deiner Verheißung einer anderen Wirklichkeit.

„Vergib uns unsere Schuld“ – Nein zu billiger Vergebung, die das Leid nicht ernst nimmt.
Und Amen zu einer Vergebung, die heilt und verwandelt.

Merkwürdig: Manchmal ist das Nein treuer als das Ja.
Manchmal ist es treuer zu Gott, bestimmte Gottesbilder abzulehnen, als sie zu übernehmen.
Das Nein kann sogar Anbetung sein –
Anbetung eines Gottes, der größer ist als unsere Vorstellungen von ihm.

Noch im Gespräch sein

Jede Klage ist immer noch Gebet.
Jeder Zweifel ist immer noch ein Gespräch mit Gott – auch wenn es ein schwieriges Gespräch ist.

Sie haben nicht aufgehört zu beten, nur weil Sie nicht mehr alles glauben können.
Sie haben nicht aufgehört zu suchen, nur weil Sie noch nicht gefunden haben.
Gott zerbricht nicht an Ihren Fragen.
Er verstummt nicht vor Ihren Zweifeln.
Er hört auch das, was Sie nicht sagen können.

Das wartende Amen

Für alle, die sich schwer tun mit dem schnellen „Amen“,
für alle spirituell Heimatlosen,
für alle, die zwischen Sehnsucht und Enttäuschung hängen –
für Sie gibt es ein anderes Amen:

„Amen – auch wenn ich nicht alles verstehe.“
„Amen – auch wenn mein Herz noch nicht mitgeht.“

Das ist mehr als genug.
Denn unser gebrochenes Amen, unser Ringen,
unser „Nein und Amen“ – das alles ist ein Geschenk.
Wir sind gleichzeitig geliebt und angefochten, angenommen und zweifelnd.
Das gehört dazu.
Das ist menschlich. Das ist das, was Jesus über Gott gesagt und gelebt hat.

Christus ist unser Ja zu Gott –
nicht unser perfektes Gebet.
Deshalb dürfen wir getrost stammeln und zweifeln.
Gott hört das Ja seines Sohnes,
auch wenn wir nur ein gebrochenes Amen hervorbringen können.

Gott ist geduldig mit Ihrem spirituellen Weg.
Er weiß, dass manche Wunden Zeit brauchen.
Er weiß, dass echter Glaube durch Zweifel hindurch muss, nicht an ihnen vorbei.

Die Sprache der spirituell Ringenden

Sie müssen nicht zu allem „Ja und Amen“ sagen.
Sie dürfen „Nein und Amen“ sagen.
Das ist die Sprache der spirituell Ringenden.
Das ist die Sprache derer, die Gott ernst nehmen.

Das Amen spreche ich so schnell noch nicht.
Aber ich spreche es.
Irgendwann.
Auf meine Weise.
In meinem Tempo.

Nein und Amen.
Das reicht.
Das ist genug.

Amen.

Fragen zur persönlichen Reflexion
für das eigene Nachdenken,
das Tagebuch
oder ein vertrauensvolles Gespräch

Meditativer Nachklang

Gott der ungezählten Namen,
Geheimnis jenseits aller Worte –
Du hörst mein Ja
Du hörst mein Nein
Du hörst mein Schweigen

In meinem Ringen erkennst Du meine Liebe
In meinen Fragen siehst Du meine Sehnsucht
In meinem Zweifel findest Du meinen Glauben

Ich bringe Dir mein gebrochenes Amen
mein wartende Herz
mein suchendes Wesen

Du machst aus meinem Nein ein Lied
aus meinem Ja eine Heimat
aus meinem Amen einen Weg

Noch bin ich unterwegs
Noch ringe ich
Noch suche ich
Und Du – Du gehst mit
Du wartest
Du liebst

Nein und Amen
Frage und Antwort
Zweifel und Vertrauen
In Dir ist Raum für alles was ich bin

Amen.

Noch nicht ganz.
Aber schon ein wenig.
Und das genügt Dir.

Für alle, die Lust haben auf mehr: Gedanken und Bausteine, die übrig blieben beim Vorbereiten

Manchmal bleiben beim Vorbereiten der Andachten oder Predigten ein paar Gedankensplitter übrig. Sie passen irgendwie nicht so richtig hinein, aber sie sind zu schade, sie zu vergessen.
Hier finden Sie etwas davon.

54blog

Normalerweise denken wir: „Amen“ = „So sei es“ oder „Es ist wahr“ (statisch)
Aber grammatisch ist „Amen“ ein Partizip. Das bedeutet:

  • „im Prozess des Fest-Werdens“

Das macht einen riesigen Unterschied:

Statisches Amen (traditionell):

  • „Ja, das stimmt!“ ✓
  • Punkt. Ende. Abgehakt.

Dynamisches Amen (partizipial):

  • „Das erweist sich als zuverlässig!“
  • „Das wird beständig wahr!“
  • „Daran halte ich kontinuierlich fest!“

Theologische Befreiung

Diese Entdeckung verändert alles:
Statt: „Hiermit bestätige ich, dass das Vaterunser wahr ist.“
Sagt das Partizip: „Dieses Gebet erweist sich in meinem Leben kontinuierlich als tragfähig.“
Das „Amen“ wird von einem Schlusspunkt zu einem Lebensprogramm.
Es bedeutet nicht: „Ich habe verstanden und stimme zu.“ Sondern: „Ich erlebe, wie sich das in meinem Leben als zuverlässig erweist – immer wieder neu.“