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6. August 2025: „Das tägliche Brot“. Ein Gedanke zur Vaterunser-Reihe

6. August 2025: „Das tägliche Brot“. Ein Gedanke zur Vaterunser-Reihe

Das geheimnisvolle Wort


Haben Sie schon mal den Ausdruck „hapax legomenon“ gehört? Vermutlich nur, wenn Sie sich mit alten Sprachen beschäftigt haben. Es bedeutet „einmaliges Wort“. Also ein Ausdruck, den es nur ein einziges Mal gibt in einer Sprache. Und so ein Wort gibt es hier, im Vaterunser, in der griechischen Fassung, die uns Matthäus und Lukas überliefert haben. Epiousion – ein Wort, das es nur einmal gibt in der gesamten antiken griechischen Literatur.

Der Evangelist Matthäus hat es für diese eine Bitte des Vaterunsers geprägt. Was mag er gemeint haben? „Für morgen“?, „Zum Leben notwendig“? Die Gelehrten rätseln bis heute.
Wir lesen es heute als „tägliches“ Brot. Und es spricht manches dafür, dass dies dem, was Jesus in seiner Muttersprache, Aramäisch, gesagt hat, wohl am nächsten kommt.

Vielleicht liegt gerade in dieser Ungewissheit eine Einladung – die Einladung zu entdecken, was unser persönliches epiousion ist, unser lebenswichtiges, tägliches Brot.

Was brauche ich wirklich?


Martin Luther wagte eine kühne Auslegung: „Tägliches Brot heißt alles, was zur Nahrung und Notdurft dieses Lebens gehört.“ Er zählte auf: Essen und Trinken, Haus und Kleidung, aber auch „fromme Eheleute, fromme Kinder, gute Freunde, treue Nachbarn, Frieden, Gesundheit.“

Eine wunderbare Liste des Lebens! Sie lädt ein zu fragen: Was steht wohl auf unserer Liste? Was ist unser tägliches Brot? Was nährt Sie wirklich?

Vielleicht ist Ihr tägliches Brot heute ein verstehender Blick, ein Gespräch, das trägt, die Stille in der Natur oder ein Lied, das Ihre Seele berührt. Vielleicht ist es die Gewissheit, dass Sie nicht allein sind – weder mit Ihren Fragen noch mit Ihren Wunden.

Die Weisheit des Heute


„Gib uns heute“ – nicht für morgen, nicht für die nächste Woche, nicht für immer. Jesus lädt uns ein in die Weisheit des Augenblicks. Wie das Volk Israel in der Wüste, das jeden Tag nur so viel Manna sammeln konnte, wie es für diesen einen Tag brauchte.
„Heute“ ist eine Anleitung zur Achtsamkeit. Eine Einladung, den gegenwärtigen Moment ernst zu nehmen. Was wäre, wenn wir am Ende eines Tages nicht fragten: „Was wird morgen sein?“, sondern: „Wofür kann ich heute dankbar sein?“
Das Leben geschieht im Heute. Hier und jetzt öffnet sich der Raum für Dankbarkeit, für Vertrauen, für die Erfahrung des Genug. Für die Entdeckung, dass wir bereits reich beschenkt sind – auch wenn nicht alle Wünsche erfüllt sind.

Vom „Mein“ zum „Unser“


Unser Brot“ – nicht „mein Brot“. das ist der entscheidende Unterschied. Die Bitte weitet den Blick: Wir beten nicht nur für uns selbst, sondern für alle, die Brot brauchen – nach Nahrung, nach Liebe, nach Anerkennung, nach Sinn.
Es ist ein merkwürdiges Paradox: Je mehr wir teilen, desto reicher werden wir. Je mehr wir für andere mitbitten, desto geborgener werden wir selbst. Das Brot vermehrt sich nicht durch Horten, sondern durch Teilen. Das hat Jesus nicht nur gelehrt, sondern gezeigt – bei der Speisung der Fünftausend, beim letzten Abendmahl, immer wieder.

Eine Einladung zum Vertrauen


Es gibt einen Hunger, den kein Brot stillen kann. Jesus nannte sich selbst das „Brot des Lebens“ – eine Nahrung, die uns von innen heraus satt macht. Nicht durch Besitz oder Leistung, sondern durch die Erfahrung: Ich bin gewollt, ich bin geliebt, ich gehöre dazu.
Diese Nahrung kommt oft unerwartet: in der Begegnung mit einem Menschen, in einem Moment der Stille, in der Schönheit eines Sonnenaufgangs. Sie kommt in dem Gefühl, verstanden zu werden, in der Gewissheit, dass unser Leben einen Sinn hat.
Die Bitte um das tägliche Brot ist eine Einladung zum Vertrauen – zum Vertrauen darauf, dass das Leben selbst eine Kraft hat, die uns trägt. Dass es mehr gibt zwischen Himmel und Erde, als wir berechnen können. Dass wir getragen sind von einer Liebe, die größer ist als wir selbst.

Amen

Fragen zur persönlichen Reflexion
für das eigene Nachdenken,
das Tagebuch
oder ein vertrauensvolles Gespräch

Meditativer Nachklang
Das tägliche Brot

Heute Morgen wachte ich auf
und da war schon so viel da:
Atem in meinen Lungen,
Licht vor meinen Augen,
ein Tag voller unentdeckter Möglichkeiten.

Wie leicht übersehe ich
das Brot, das bereits bereitsteht:
Das Lächeln der Nachbarin,
das Lied der Amsel vor dem Fenster,
die warme Tasse in meinen Händen.
Manchmal ist mein tägliches Brot
nur ein kleiner Moment der Stille,
manchmal ein mutiges Gespräch,
manchmal die Gewissheit:
Ich bin nicht allein mit meinen Fragen.

Du Quelle allen Lebens,
mache mich aufmerksam
für die tausend kleinen Wunder
dieses einen Tages.

Und lass mich nicht vergessen
die leeren Tische dieser Welt,
während ich am gedeckten sitze.
Mache mich wach
für mein Handeln
angesichts ihres Hungers.

Lass mich selbst zum Brot werden
für andere:
Ein Wort, das tröstet,
eine Hand, die hilft,
ein Herz, das versteht.

Denn im Teilen wird das Wenige zum Vielen
im Geben werden wir reich,
im Danken wird das Leben hell.

Für alle, die Lust haben auf mehr: Gedanken und Bausteine, die übrig blieben beim Vorbereiten

Manchmal bleiben beim Vorbereiten der Andachten oder Predigten ein paar Gedankenspltter übrig. Sie passen irgendwie nicht so richtig hinein, aber sie sind zu schade, sie zu vergessen.
Hier finden Sie etwas davon.

54blog

Die frühen Christen verstanden diese Bitte als Verweis auf das gemeinsame Abendmahl, bei dem Brot geteilt wird. Nicht nur die tägliche Nahrung ist gemeint, sondern auch die geistliche Speise der Gemeinschaft – das Brot, das uns mit anderen und mit dem Göttlichen verbindet. Jede gemeinsame Mahlzeit wird so zu einem heiligen Moment.

31blog

Die Brotbitte steht genau in der Mitte des Vaterunsers – zwischen den ersten drei Bitten, die sich an Gott wenden („Dein Name“, „Dein Reich“, „Dein Wille“) und den letzten drei Bitten, die unsere menschlichen Bedürfnisse ausdrücken. Sie ist die Brücke zwischen Himmel und Erde, zwischen dem Göttlichen und dem Alltäglichen.