Dritter Gedankengang
zur Vaterunser-Reihe:
„Zwischen Himmel und Herz“
Sonntagsweite am 20. Juli 2025
Zwischen vertrauter Nähe und heiligem Geheimnis
In diesen Wochen wollen wir gemeinsam das Vaterunser entdecken –
vertraut von Kindheitstagen an
und gleichzeitig fremd, als würden wir es zum ersten Mal hören.
Lassen Sie uns eine Entdeckungsreise wagen.
Heute begleitet uns diese Bitte:
Vater unser im Himmel, geheiligt werde dein Name…
Diese ersten Zeilen des Vaterunsers führen uns in eine paradoxe Bewegung:
Von der persönlichen Vertrautheit zur ehrfürchtigsten Distanz.
Die Botschaft der Nähe
Zunächst die Seite der Vertrautheit.
Das Wort „Vater“ berührt unsere tiefsten Sehnsüchte nach Geborgenheit –
aber auch unsere Vätererfahrungen durch Enttäuschung, Abwesenheit oder Gewalt.
Als Jesus seine Jünger lehrte, Gott mit „Abba“ anzureden –
etwa unserem „Papa“ entsprechend –,
zeigt er ein neues, ein anderes Vaterbild.
Vielleicht kennen Sie das berühmte Gleichnis vom verlorenen Sohn.
Im Gleichnis zeigt Jesus uns dieses Vaterbild:
Der Sohn hat sein Erbe verprasst.
Völlig abgerissen und verarmt kehrt er nach langen jahren zurück nach Hause.
Alle Zuhörer Jesu rechnen an dieser Stelle mit einer Gardinenenpredigt des Vaters,
wenn nicht noch schlimmeres.
Und da passiert etwas, dass die Zuhörer zutiefst erstaunt:
Der Vater läuft seinem heimkehrenden Kind entgegen und zerreißt alle Konventionen.
„Schon von weitem sah der Vater ihn kommen.
Er lief ihm entgegen, fiel ihm um den Hals und küsste ihn“ (Lukas 15,20).
Ein biblischer Patriarch hätte gewartet, bis die angemessene Ehrerbietung kam.
Er rennt nicht – denn wie es heißt: „A gentleman will walk, but never run!“
Doch hier geschieht das Unerhörte: Gott rennt uns entgegen.
Das Gleichnis könnte also genauso gut „Gleichnis vom barmherzigen Vater“ heißen.
So ist das Vaterbild von Jesus!
So vertraut, zärtlich, liebevoll, barmherzig!
Das meint er, wenn er vom Vater unser spricht, von unserem Vater.
Gott ist größer als unsere Bilder
Doch unmittelbar folgt die andere Seite:
„Geheiligt werde dein Name.“
Das ist die ehrfürchtige Distanz, von der ich sprach.
Ich bleibe an dem Wort „heilig“ hängen.
Religionswissenschaftlich meint „heilig“ das ganz Andere –
das, was uns berührt und gleichzeitig ehrfürchtig werden lässt.
Im Alltag wird uns etwas heilig, wenn es unersetzlich wertvoll für uns ist:
die Erinnerung an einen geliebten Menschen,
ein Moment tiefer Verbundenheit,
unsere innerste Würde.
Heilig ist das, was wir nicht benutzen oder instrumentalisieren können,
sondern was uns verwandelt, wenn wir es berühren.
„Geheiligt werde dein Name“ soll uns davor bewahren,
Gott zu vereinnahmen, ihn für unsere Zwecke zu missbrauchen
oder ihm Vorschriften zu machen.
Es wahrt das Geheimnis Gottes und lässt ihm Raum,
anders zu sein, als wir ihn uns vorstellen.
Wie wenig ernst wurde das oft genommen!
Was wird nicht alles im Namen Gottes getan!
Die Bibel erinnert immer wieder:
Du sollst dir kein Bild von Gott machen!
Es ist eines der 10 Gebote.
Es sagt: Gott ist größer als unsere Bilder.
Das Vaterbild ist nur ein Bild –
nur ein Fenster, das uns einen bestimmten Blick ermöglicht.
Es ist nicht die ganze Wirklichkeit.
Und doch brauchen wir Bilder, um uns dem Unnennbaren zu nähern.
Deshalb kennt die Bibel so viele Gottesbilder:
die tröstende Mutter
(„Ich will euch trösten, wie eine Mutter ihr Kind tröstet“, Jesaja 66,13),
den schützenden Fels,
die sprudelnde Quelle,
den bergenden Adler.
Das Bilderverbot mahnt:
Gott lässt sich nicht einfangen in unseren begrenzten Bildern.
Gott ist nicht der Mann
mit der weißen Haut und dem weißen Bart,
der im Himmel wohnt.
Heilige Grenzen als Lebenskunst
Noch einen Gedanken weiter:
Diese Ehrfurcht vor dem Heiligen lehrt uns eine wichtige Lebenskunst –
das Ziehen heiliger Grenzen.
Zunächst die Grenze zu uns selbst:
Es gibt einen Kern in uns, der unantastbar ist –
unsere Würde,
unser Recht auf Respekt,
unser Bedürfnis nach Schutz.
„Geheiligt werde dein Name“ sagt uns:
Du als Kind Gottes bist wertvoll,
nicht weil du etwas leistest,
sondern weil du bist.
Diese innere Grenze schützt vor Selbstausbeutung
und falschen Ansprüchen an uns selbst.
Dann die Grenze zu anderen:
Nicht alles muss gesagt, geteilt, erklärt werden.
Es gibt heilige Räume der Stille, des Rückzugs, der Intimität.
Heilige Grenzen sind nicht Mauern der Abwehr,
sondern Türen mit Türhütern –
sie entscheiden, wer wann Zutritt hat zu unserem Innersten.
Diese heiligen Grenzen sind paradox:
Sie schaffen nicht Distanz,
sondern ermöglichen echte Nähe.
Nur wer seine Grenzen kennt und respektiert, kann wirklich begegnen.
Eine persönliche Einladung
Ich komme zum Schluß:
Das Vaterunser beginnt nicht mit einem Dogma,
sondern mit einer Einladung.
Es lädt uns ein, neu zu entdecken, wer Gott wirklich ist –
ganz anders, als wir dachten.
Es lädt uns ein zu fragen:
Welches Bild passt für mich zu Gott?
Zugleich: Wo erkenne ich die Grenzen dieses Bildes?
Gott ist größer als meine Bilder von ihm.
Es lädt uns auch ein, heilige Grenzen zu ziehen
Was in meinem Leben verdient Ehrfurcht und Schutz?
Wo brauche ich heilige Grenzen?
Diese Gedanken möchte ich Ihnen heute mitgeben.
FRAGEN ZUR VERTIEFUNG
Hier ein paar weiterführende Fragen.
Für die persönliche Meditation,
das Tagebuch
oder ein gutes Gespräch:
- „Welche Eigenschaften hat die beste Vaterfigur/Mutterfigur in Ihrem Leben gehabt? Welche davon tragen Sie bereits in sich?“
- „Wenn jemand, der Sie gut kennt, beschreiben sollte, was für Sie ‚heilig‘ und unantastbar ist – was würde diese Person sagen?“
- „Auf einer Skala von 1-10: Wie gut gelingt es Ihnen momentan, gesunde Grenzen zu anderen Menschen zu ziehen? Was wäre anders, wenn Sie bei 7 oder 8 wären?“
SONNTAGSWEITE –
MORGENGEBET
Gott, während die Welt erwacht und der neue Tag beginnt, danke ich für diese stillen Momente der Verbundenheit.
Gott, Du Geheimnis meines Lebens,
Du bist uns näher als wir uns selbst
und doch größer als alle unsere Vorstellungen.
Hilf mir, heilige Grenzen zu ziehen,
die mich schützen und verbinden.
Lass mich in Dir Geborgenheit finden
und gleichzeitig das Staunen bewahren
vor dem, was mein Verstehen übersteigt.
Segne meine Zweifel und meine Sehnsucht.
Amen.
PSALMTEXT
HERR, du hast mich erforscht und kennst mich.
Du weißt, ob ich sitze oder stehe.
Schon von fern erkennst du meine Gedanken.
Du siehst, ob ich gehe oder liege,
und bist vertraut mit all meinen Wegen.
Noch liegt mir das Wort nicht auf der Zunge,
da kennst du es bereits, HERR.
Von hinten und von vorn umgibst du mich
und legst deine Hand auf mich.
Diese Erkenntnis ist mir zu wunderbar,
zu hoch, als dass ich sie begreifen könnte.
Wohin könnte ich gehen vor deinem Geist?
Wohin könnte ich fliehen vor deinem Angesicht?
Stiege ich hinauf zum Himmel, so bist du dort.
Machte ich mein Lager in der Totenwelt, siehe, so bist du auch da.
Nähme ich Flügel der Morgenröte
und ließe mich nieder am äußersten Meer,
so würde auch dort deine Hand mich führen
und deine Rechte mich halten.
Spräche ich: »Finsternis möge mich decken
und Nacht werde das Licht um mich her«,
so wäre auch die Finsternis nicht finster vor dir,
und die Nacht leuchtete wie der Tag.
Psalm 139 (BasisBibel)
SEGEN
Es segne dich die Kraft, die größer ist als alle Namen, die wir ihr geben können.
Es begleite dich das Vertrauen, dass du getragen bist – auch in den Fragen, die ohne Antwort bleiben, auch in den Zweifeln, die zum Leben gehören.
Es öffne sich vor dir der Raum, in dem du atmen kannst – frei von fremden Erwartungen, frei für deine eigene Wahrheit.
Es wachse in dir die Gewissheit: Du bist gewollt, du bist wertvoll, du gehörst dazu – zu diesem großen Geheimnis, das wir Leben nennen.
Und der Friede, der tiefer reicht als unser Verstehen, bewahre dein Herz und deine Gedanken auf allen deinen Wegen.
Amen.