Dein Wille geschehe – Zwischen Vertrauen, Protest und Gelassenheit

Was bedeutet es, sich Gott anzuvertrauen, wenn wir so viel Wert auf unsere Autonomie und Entscheidungen legen?

Ich möchte Ihnen von vier Menschen erzählen, wie sie mit dieser schweren Bitte umgegangen sind.

1. Wenn die Worte im Hals stecken bleiben

Eine Bekannte erzählte mir von einer Trauerfeier für einen jungen Freund. Beim Vaterunser blieb ihr der Satz „Dein Wille geschehe“ im Hals stecken. Sie konnte es nicht sprechen, weil sie nicht Ja sagen konnte zu dem, was Gott da anscheinend wollte. Sie war zornig auf Gott. Zornig über den Tod dieses Freundes.

Das soll Gottes Wille sein?

Ihr Herz rebellierte gegen diese Worte. Sie spürte, wie sich ihre Kehle zusammenzog, wie sich ihr ganzer Körper gegen diese Bitte wehrte. Da stand sie, umgeben von Menschen, die gemeinsam beteten, und doch fühlte sie sich völlig allein mit ihrem Zorn, ihrer Verwirrung, ihrer Sprachlosigkeit.

Aber dann geschah etwas Überraschendes: Sie erlebte, wie gut es war, dass andere es für sie mitsprachen. Die Stimmen der Gemeinde trugen das Gebet weiter, auch dort, wo ihre Stimme versagte. Das hat sie auf besondere Weise getragen.

In diesem Moment erkannte sie etwas Kostbares: Ich bin Teil einer Gemeinschaft, die für mich mitbetet und manchmal für mich mitglaubt. Das „uns“ und „unser“ im Vaterunser nimmt mich hinein in eine Gemeinschaft, die mehr ist als meine eigenen Worte, mehr als meine Sprachlosigkeit. Es ermöglicht Kontakt mit Gott, selbst dort, wo ich an ihm zweifle oder verzweifle.

Manchmal sind wir zu verletzt, um zu vertrauen. Manchmal zu müde, um zu glauben. Manchmal zu zornig, um zu beten. Und das ist in Ordnung. Denn wir sind nicht allein mit unserem Gebet.

2. Die Kraft der Gemeinschaft

Ähnliches beschreibt die evangelische Bischöfin Petra Bahr in einem bewegenden Brief an ihren 17-jährigen Sohn. Er hatte gefragt: „Wärst du noch in der Kirche, wenn du nicht Pastorin geworden wärst?“

Ihre Antwort war ein Brief, den sie ihm schrieb. Es ist ein Text voller Ehrlichkeit über ihr Leiden an der Kirche – und gleichzeitig ein bewegender Mutmachtext:

„Weil ich keinen anderen Ort weiß, mein Sohn. Hier glauben andere, wenn ich nicht glauben kann. Hier beten Geschwister im Glauben, wenn mir die Adressatin meiner Gebete nicht mehr über die Lippen geht… Ich brauche die anderen, die mit mir am Ende eines langen Tages das Vaterunser sprechen und auch die Bitten ernst nehmen, die mich überfordern. Mein Glaube ist zu schwach, um ohne Kirche auszukommen.“

Hier zeigt sich eine tiefe Weisheit: Glaube ist nicht nur eine private Angelegenheit zwischen mir und Gott. Glaube lebt in der Gemeinschaft. Manchmal beten andere für uns das, was wir nicht beten können. Manchmal tragen andere für uns das Vertrauen, das uns gerade fehlt.

„Dein Wille geschehe“ wird so zu einer Bitte, die ich nicht immer allein tragen muss. Es gibt Menschen, die mit mir diesen Weg gehen, die mich mittragen, wo ich die Worte nicht tragen kann.

3. Gelassenheit als Weg zur Freiheit

Ein anderer Mensch, der über diese Worte nachdachte: Der mittelalterliche Mystiker Meister Eckhart. Er war Seelsorger für eine Frauengemeinschaft in Köln, die Beginen. Er predigte in der Sprache des Volkes, nicht in gelehrtem Kirchenlatein. Und weil es für das, was er sagen wollte, noch keine deutschen Worte gab, erfand er neue.

So prägte er das deutsche Wort „Gelassenheit“.

Für ihn bedeutete es nicht Lässigkeit oder Gleichgültigkeit, sondern ein tiefes Loslassen dessen, was wir krampfhaft festhalten wollen. Es ist die Kunst, sich dem Leben anzuvertrauen, ohne aufzugeben.

Gelassenheit bedeutete für ihn: sich lassen, sich überlassen und anvertrauen. Die Faust zu öffnen, die sich um das Gewünschte gekrampft hat. Den Griff zu lockern, mit dem wir unser Leben kontrollieren wollen.

Er sah, wie Menschen sich abmühten, ihr Leben in den Griff zu bekommen. Wie sie sich sorgten, planten, kämpften – und dabei oft das Leben selbst verpassten. Gerade dort, wo wir loslassen mussten, entsteht manchmal Raum für etwas, was wir nie für möglich gehalten hätten.

„Dein Wille geschehe“ wird so paradoxerweise zu einem Weg in die Freiheit – die Freiheit von der Illusion, alles kontrollieren zu müssen. Die Freiheit von der Last, das ganze Leben allein stemmen zu müssen.

Es ist wie das Bild eines Vogels, der lernt zu fliegen: Solange er krampfhaft mit den Flügeln schlägt, kommt er nicht vom Boden. Erst wenn er sich dem Wind anvertraut, trägt ihn die Luft.

4. Protest und Vertrauen zugleich

Ein vierter und letzter Zugang zu diesem Text: Dietrich Bonhoeffer schrieb sein berühmtes Lied „Von guten Mächten“ im Gefängnis, wenige Wochen vor seinem Tod.

Inmitten von Verhören und Leid, in der Ungewissheit über sein Schicksal, in der Dunkelheit der Zelle dachte er über „Dein Wille geschehe“ nach. Für Bonhoeffer war diese Bitte ein Doppeltes:

Einerseits ein Protest gegen das Leid, das er erlebte. Ein Aufschrei gegen die Ungerechtigkeit, die er sah. Ein Nein zu allem, was Menschen einander antun.

Andererseits ein trotziges Vertrauen darauf, dass Gottes guter Wille sich durchsetzen wird. Es war seine Art zu sagen: Gott, lass deinen Willen geschehen – deinen guten und heilsamen Willen, nicht das Leid, das wir gerade erfahren.

„Dein Wille geschehe“ wurde für ihn zu einer Bitte um Gottes heilsames und heilendes Handeln in einer heillosen Welt. Ein Gebet, das nicht resigniert, sondern protestiert. Das nicht aufgibt, sondern hofft. Das nicht schweigt, sondern ruft nach Gerechtigkeit und Frieden.

Meine eigene Haltung entdecken

Vier Wege mit diesem Satz „Dein Wille geschehe“. Vier Menschen, die mit diesem Satz umgehen mussten. Sie alle zeigen: Dies ist keine Bitte um Resignation. Es ist eine Bitte um die Kraft, uns dem anzuvertrauen, was trägt.

Eine Bitte darum, dass sich in uns eine tiefe Ruhe ausbreiten kann, die daraus erwächst, dass wir uns gehalten wissen.

Manchmal können wir diese Worte nicht sprechen – und das ist in Ordnung. Dann tragen uns die Worte anderer, dann betet die Gemeinschaft für uns mit.

Manchmal wird diese Bitte zu unserem eigenen Weg, loszulassen und Raum zu schaffen für das Neue, das Gott in unser Leben bringen möchte.

Manchmal ist diese Bitte ein Protest gegen das Leid, das wir erleben oder miterleben. Eine Bitte, dass Gottes guter und heilsamer Wille geschehen möge. Gerade dort, wo Elend und Leid herrschen.

Wem von diesen vieren fühlen Sie sich heute verbunden? Den beiden Frauen, die manchmal nicht die Kraft für diese Bitte haben, sich aber von anderen mitgetragen fühlen? Einem Meister Eckhart, der daran erinnert, wie frei ein Mensch sein kann, der loslässt? Oder einem Dietrich Bonhoeffer, der diese Bitte als Protest in einer Welt betet? Trotzig, hoffnungsvoll, gegen alles Unrecht und Elend der Welt?

Ich kann und darf meinen eigenen Weg mit dieser Bitte finden. Immer wieder neu.

Amen

„Dein Wille geschehe“-
Dies ist keine Bitte um Resignation. 
Es ist eine Bitte um die Kraft,
uns dem anzuvertrauen, was trägt. 


Fragen zur persönlichen Reflexion
für das eigene Nachdenken, das Tagebuch
oder ein vertrauensvolles Gespräch

  1. „Wann haben Sie sich einmal sprachlos gefühlt? Wer war damals für Sie da? Was hat Ihnen gutgetan – auch ohne Worte? Und was würden Sie heute jemandem geben, der sich so fühlt wie Sie damals?“
  2. „Wie gut können Sie normalerweise loslassen? Wann ist Ihnen das schon einmal besser gelungen? Was war damals anders? Und woran würden andere merken, wenn Sie noch etwas gelassener wären?“
  3. „Denken Sie an etwas Ungerechtes, das Sie beschäftigt. Können Sie sowohl wütend als auch hoffnungsvoll sein? Was fällt Ihnen leichter – die Wut oder die Hoffnung? Und was bräuchten Sie, um auch das andere zu spüren?“

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