Das Geschenk der Unterbrechung.
Wie Angehörige liebevoll da sein
und trotzdem für sich selbst sorgen können
1. Der schwere Balanceakt
Sie sitzen hier am Bett eines Menschen, der Ihnen nahesteht. Die Zeit scheint stillzustehen, und gleichzeitig rast sie davon. In diesen Tagen und Wochen erleben Sie eine der schwierigsten Aufgaben des Lebens: da zu sein und gleichzeitig für sich selbst zu sorgen.
Es ist ein Paradox, das viele von Ihnen kennen. Sie möchten jeden Moment nutzen, jedes Wort hören, jeden Atemzug teilen.
Und doch spüren Sie, wie Ihre eigenen Kräfte schwinden
2. Die Erlaubnis zum Gehen
„Geh hinaus und lebe“, sagte einst der persische Mystiker Rumi.
Diese Worte gelten auch für Sie in dieser Zeit. Es ist nicht nur erlaubt, sondern notwendig, dass Sie das Zimmer verlassen. Dass Sie nach Hause gehen. Dass Sie spazieren gehen, duschen, ein warmes Essen zu sich nehmen.
Ihre Liebe misst sich nicht an der Anzahl der Stunden am Krankenbett. Sie misst sich an der Qualität Ihrer Präsenz, wenn Sie da sind.
Ein ausgeruhter, genährter Mensch kann viel mehr Liebe und Aufmerksamkeit schenken als jemand, der sich selbst vergisst.
3. Der Sauerstoff des Lebens
Denken Sie an die Sicherheitshinweise im Flugzeug: Setzen Sie zuerst sich selbst die Sauerstoffmaske auf, dann helfen Sie anderen.
Dieser Rat gilt auch hier im Hospiz. Sie können nur geben, was Sie haben. Sie können nur Kraft spenden, wenn Sie selbst Kraft tanken.
4. Die heilsame Routine des Alltags
Gehen Sie nach Hause. Öffnen Sie die Fenster. Machen Sie sich einen Kaffee oder Tee. Setzen Sie sich in Ihren Lieblingssessel.
Diese einfachen Handlungen sind keine Flucht vor der Realität. Sie sind Anker in einer Zeit, die alle Gewissheiten ins Wanken bringt.
Der Alltag trägt Sie, wenn alles andere zu schwer wird.
5. Das Gespräch als Geschenk
Sprechen Sie mit uns, dem Hospizteam. Sprechen Sie mit der Seelsorge. Ihre Sorgen, Ihre Ängste, Ihre Schuldgefühle sind uns nicht fremd. Wir haben sie schon oft gehört, und sie sind alle berechtigt.
Es ist kein Zeichen von Schwäche, Hilfe zu suchen. Es ist ein Zeichen von Weisheit.
6. Die Stille zwischen den Besuchen
Wenn Sie eine Pause machen, entsteht Raum. Raum für Gedanken, die im ständigen Wachen keinen Platz finden.
Raum für Erinnerungen an schöne gemeinsame Zeiten.
Raum für die Dankbarkeit, die neben der Trauer wohnt.
Diese Pausen sind nicht Untreue gegenüber dem sterbenden Menschen.
Sie sind Geschenke an Sie beide: Zeit zur Besinnung für Sie, Zeit ohne Ihre Sorge um ihn oder sie
7. Der Rhythmus von Nähe und Distanz
Das Leben kennt seit jeher den Rhythmus von Anspannung und Entspannung. Tag und Nacht. Einatmen und Ausatmen. Hingabe und Rückzug.
Auch Ihre Begleitung darf diesem natürlichen Rhythmus folgen.
Sie müssen nicht rund um die Uhr stark sein. Sie dürfen auch weinen, auch müde sein, auch überfordert.
8. Das Vertrauen in das Team
Wir sind da, wenn Sie nicht da sind. Wir wachen, wenn Sie schlafen. Wir begleiten, wenn Sie eine Pause brauchen.
Das ist unser Auftrag, unsere Berufung, unser Geschenk an Sie beide.
Vertrauen Sie darauf, dass Ihr Mensch gut aufgehoben ist.
Dass er oder sie spürt: Ich bin nicht allein, auch wenn meine Liebsten gerade nicht da sind.
9. Die Kraft der kleinen Auszeiten
Manchmal reicht schon ein Gang in den Garten. Fünf Minuten frische Luft. Ein kurzes Telefonat mit einem Freund. Eine Tasse Tee in der Cafeteria.
Diese kleinen Unterbrechungen sind wie Atemzüge für die Seele. Sie bringen Sie zurück zu sich selbst.
Sie erinnern Sie daran, dass Sie mehr sind als nur der Angehörige eines sterbenden Menschen.
10. Ein Segen für den Weg
Mögen Sie die Erlaubnis spüren, gut für sich zu sorgen.
Mögen Sie den Mut finden, um Hilfe zu bitten.
Mögen Sie das Vertrauen entwickeln, dass Liebe auch in der Pause wirkt.
Und mögen Sie wissen:
Ihre Fürsorge für sich selbst ist keine Gleichgültigkeit gegenüber dem anderen.
Sie ist die Voraussetzung dafür, dass Sie bis zum Ende liebevoll da sein können.