SONNTAGSWEITE
UND WOCHENMITTE
15. Oktober 2025:
Psalm 139,7-12
Du warst da in meiner Suche nach Dir
Predigt zu
Psalm
139:7-12
„Wohin soll ich gehen vor deinem Geist, und wohin soll ich fliehen vor deinem Angesicht? Führe ich gen Himmel, so bist du da; bettete ich mich bei den Toten, siehe, so bist du auch da. Nähme ich Flügel der Morgenröte und bliebe am äußersten Meer, so würde auch dort deine Hand mich führen und deine Rechte mich halten. Spräche ich: Finsternis möge mich decken und Nacht statt Licht um mich sein, so wäre auch Finsternis nicht finster bei dir, und die Nacht leuchtete wie der Tag. Finsternis ist wie das Licht.“
David fragt: „Wohin soll ich gehen vor deinem Geist?“
Das klingt nach Flucht. Aber es ist Staunen. Es ist Neugier.
Wo könnte ich eigentlich hingehen, wo du nicht bist?
David will die Grenzen ausloten.
Er will wissen: Wie weit reicht diese Nähe?
Wo bist du nicht?
David macht eine Entdeckungsreise.
Er durchmisst die Welt.
Er durchmisst das Leben.
Und findet überall dasselbe:
Du bist da.
Das ist keine Bedrohung. Das ist Staunen.
Das ist seine Erfahrung: Es gibt keinen Ort, wo Gott die Menschen verlässt.
Und ich merke, wie mir das zu glatt wird.
Zu schöngefärbt und zu fromm:
Ich möchte David widersprechen.
Dazwischenrufen:
Es gibt doch auch diese Orte, die nicht sein sollten.
Orte der Gewalt.
Orte, wo das Leben zerbricht.
Ist Gott auch da?
Und– ich ahne gleichzeitig,
wenn ich die Bibel lese,
die Geschichte von Hiob,
die Geschichte von Jesus am Kreuz,
wenn ich Bonhoeffers „Von guten Mächten“ singe,
geschrieben im Gefängnis:
Gottes Gegenwart dort ist Mitleiden.
Nicht Billigung. Sondern Solidarität.
„Auch Finsternis leuchtet“
Ich glaube, nur wenn man sich das eingesteht
wird deutlich, wie tief die Worte von David sind, wenn er schreibt:
„Spräche ich: Finsternis möge mich decken und Nacht statt Licht um mich sein, so wäre auch Finsternis nicht finster bei dir.“
David tastet sich vor. Bis in die Dunkelheit hinein.
Und findet: Auch dort – Gegenwart.
„Die Nacht leuchtete wie der Tag. Finsternis ist wie das Licht.“
Du bist da.
Nicht als der, der alles rechtfertigt.
Sondern als der, der mitgeht.
Als der, der aushält.
Als der, der bei den Leidenden bleibt.
Das ist die Hoffnung des Psalms.
Die Flügel der Morgenröte
Und David nimmt uns weiter mit in diese Welterkundung,
die gleichzeitig eine Lebenserkundung ist:
Führe ich gen Himmel, so bist du da; bettete ich mich bei den Toten, siehe, so bist du auch da.
Nähme ich Flügel der Morgenröte und bliebe am äußersten Meer, so würde auch dort deine Hand mich führen und deine Rechte mich halten.
Himmel – das ist nicht nur der religiöse Raum.
Das ist auch der Moment, wenn Ihnen das Herz aufgeht.
Wenn Sie merken: Das Leben ist schön.
Wenn Sie sich frei fühlen.
Du, Gott, bist dort.
Totenreich – das ist nicht nur das Jenseits.
Das ist auch die Zeit, wenn Sie sich wie begraben fühlen.
Wenn die Depression Sie nach unten zieht.
Wenn Sie erschöpft sind und nicht mehr können.
Und auch dort: Gegenwart.
Morgenröte – das ist der Aufbruch.
Der Neuanfang.
Wenn Sie spüren: Jetzt geht es weiter.
Wenn neue Hoffnung kommt.
Äußerstes Meer – das ist die Grenze.
Das Unbekannte.
Wenn Sie nicht wissen, was kommt.
Aber es lässt sich spüren:
Gottes Gegenwart ist nicht nur dort, wo wir ankommen.
Sondern schon unterwegs.
Schon in der Suche.“
Der große Sufi-Mystiker Rumi
hat es so ausgedrückt:
„Du warst da in meiner Suche nach dir.“
Die Hand, die hält
„So würde auch dort deine Hand mich führen und deine Rechte mich halten.“
Die Hand Gottes. Ein menschliches Bild für etwas Größeres.
Gott hat keine Hand, wie wir sie haben. Gott ist mehr als jedes Bild.
Aber die Bibel wählt Bilder, die wir fühlen können. Weil wir Menschen sind. Weil wir Körper sind.
Und wir wissen, was Hände tun:
Eine Hand, die Ihre Stirn berührt, wenn Sie Fieber haben.
Eine Hand, die Ihre Hand hält, wenn Sie Angst haben.
Eine Hand, die Ihren Rücken stützt, wenn Sie schwanken.
Vielleicht kennen Sie solche Hände: Hände, die getröstet haben.
Hände, die ermutigt haben. Hände, die einfach da waren.
Gottes Hand ist wie diese Hände – und mehr.
Sie ist die Gegenwart, die Sie hält, auch wenn niemand sichtbar da ist.
Sie ist die Kraft, die Sie trägt, auch wenn Sie sich kraftlos fühlen.
Nicht Festklammern. Sondern Sicherheit.
Wie ein Geländer, das da ist, wenn Sie es brauchen. Wie ein Arm, der Sie stützt, wenn Sie schwanken.
Überall zuhause
Die große Entdeckung des Psalms: „Ich bin gehalten“
Das ist keine Bedrohung. Das ist Geborgenheit.
Rumi hatte recht: „Du warst da in meiner Suche nach dir.“
Sie müssen nicht woanders hin.
Sie sind schon da, wo Gott ist.
Der Alltag ist heiliger Raum.
Der Himmel, die Erde,
die Morgenröte und das äußerste Meer.
Heiliger Raum,
weil Gott da ist.
Fragen zur persönlichen Reflexion
für das eigene Nachdenken,
das Tagebuch
oder ein vertrauensvolles Gespräch
- Wann haben Sie schon einmal gespürt, dass Sie in schwierigen Momenten nicht allein waren? Was hat Ihnen damals geholfen?
- Auf einer Skala von 1 bis 10 – wie stark spüren Sie gerade jetzt, dass Sie „zuhause“ sind, auch wenn vieles unsicher ist? Was würde es brauchen, um einen Punkt höher zu kommen?
Meditativer Nachklang
Gott, du Grund meines Gehens,
in dir bewege ich mich
und bin ich zuhause.
Wo ich auch bin – du bist da.
Was ich auch durchmache – du gehst mit.
Lass mich spüren:
Ich bin getragen.
Ich bin begleitet.
Ich bin zuhause in dir.
Amen.
Für alle, die Lust haben auf mehr: Gedanken und Bausteine, die übrig blieben beim Vorbereiten
Manchmal bleiben beim Vorbereiten der Andachten oder Predigten ein paar Gedankensplitter übrig. Sie passen irgendwie nicht so richtig hinein, aber sie sind zu schade, sie zu vergessen.
Hier finden Sie etwas davon.

1. Die Flügel der Morgenröte (V. 9)
„Kanfei-shachar“ – die Flügel der Morgenröte. Im Hebräischen klingt das nach Geschwindigkeit, nach Licht, nach dem schnellsten Moment des Tages.
David wählt bewusst das schnellste Bild seiner Zeit. Heute würden wir sagen: „Nähme ich die Geschwindigkeit des Lichts.“
Die Ironie: Selbst mit übermenschlicher Geschwindigkeit kann man Gott nicht „abhängen.“
Inspirierende Frage: Welche „Lichtgeschwindigkeit“ kennen Sie in Ihrem Leben – Momente, wo alles ganz schnell geht? Haben Sie schon erlebt, dass Gott auch in diesen rasanten Zeiten bei Ihnen war?

2. Das äußerste Meer (V. 9)
„Acharit yam“ – das äußerste Meer. In der hebräischen Kosmologie der Westrand der Welt. Wo das Meer das Chaos berührt.
Der Ort maximaler Gottferne in der Vorstellungswelt Israels.
Dass Gott auch dort präsent ist, sprengt konventionelle Theologie.
Inspirierende Frage: Was ist für Sie das „äußerste Meer“ – der Ort, wo Sie sich am weitesten von allem Vertrauten entfernt fühlen? Könnten Sie sich vorstellen, dass auch dort Gottesgegenwart möglich ist?