Zerbrechliches Leben – Verwundbarkeit und Heilung
Eine alte japanische Kunst:
Ein zerbrochenes Gefäß wird mit Gold gekittet.
Die Bruchstellen leuchten –
nicht trotz,
sondern wegen der Risse.
Ich stelle mir vor,
wie jemand mit den Fingern darüberstreicht.
Fast zärtlich.
Wie tröstlich wäre es,
wenn auch unsere eigenen Risse
so sichtbar sein dürften –
und so wertgeschätzt.
Zerbrochen
und doch ganz.
Diese Kunst heißt Kintsugi.
Goldverbindung.
Die Scherben, die Risse bleiben nicht unsichtbar –
sie werden Teil der Geschichte.
Teil des Wertes.
Teil der Schönheit.
Was für ein anderer Blick
auf das Zerbrochene!
In unserer Welt
sind Brüche oft Makel.
Wir sollen funktionieren,
unsere Narben verbergen,
weitergehen –
als wäre nichts gewesen.
Doch wie erschöpfend
ist dieses Versteckspiel.
Wie einsam das ständige „Alles gut“.
Was wäre,
wenn wir Verletzlichkeit
nicht als Schwäche sehen,
sondern als Raum?
Ein Raum für Tiefe,
für Weite,
für echte Begegnung?
Die Bibel erzählt
von einem Gott,
der sich selbst verwundbar macht.
Der mit uns geht –
nicht als Unversehrter,
sondern als einer,
der Wunden trägt.
„Er hatte keine Gestalt und keine Pracht,
dass wir ihn angesehen hätten,
und kein Aussehen,
dass wir Gefallen an ihm gefunden hätten.“
(Jesaja 53,2 – BasisBibel)
Und der auferstandene Jesus sagt, als er seine Wunden zeigt:
„Sieh meine Hände und meine Seite!“
(Johannes 20,27 – BasisBibel)
Die Wunde
wird zum Erkennungszeichen.
Könnte es sein,
dass auch unsere Narben
Zeichen sind?
Nicht nur von Schmerz,
sondern von Leben?
Von Tiefe.
Von Reife.
Nicht nur Jesus –
auch die Menschen in der Bibel
sind selten makellos:
Mose stottert.
Hanna trauert.
Petrus versagt.
Ruth geht durch die Fremde.
Paulus trägt einen „Stachel im Fleisch“.
Verletzt.
Verletzlich.
Und doch gesegnet.
Manchmal denke ich:
Heilung bedeutet nicht,
dass keine Narbe bleibt.
Heilung bedeutet,
dass die Narbe
nicht mehr wehtut,
wenn man sie berührt.
Dass die Erinnerung
nicht mehr gefährlich ist.
Dass man wieder
atmen kann.
Sich aufrichten.
Weitergehen.
Vielleicht mit einer neuen Achtsamkeit.
Einer tieferen Empfänglichkeit
für das Zerbrechliche.
Wir alle kennen sie –
die Menschen mit gekitteten Herzen.
Behutsam.
Klar.
Ehrlich.
Weise geworden
durch das,
was sie überlebt haben.
Was wäre,
wenn auch Du
Deine Brüche
mit anderen Augen sehen könntest?
Wenn Du ihnen begegnest
wie ein Kunsthandwerker
der Scherbe für Scherbe
mit Gold verbindet –
in Geduld,
in Liebe,
in Würde?
Vielleicht liegt darin die Kraft:
Im Annehmen
der eigenen Verwundbarkeit.
Im Mut,
nicht perfekt sein zu müssen.
In der Hoffnung,
dass das Zerbrochene
nicht das Ende der Geschichte ist.
Sondern der Anfang.
Mit goldener Naht.