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12. Oktober 2025:
„Sailing“ und die spirituelle Suche
Predigt zu Psalm 42,2-6: „Spirituelle Odyssee“
Bibeltext: Psalm 42,2-6 (BasisBibel)
„Wie ein Hirsch nach Wasser lechzt, so sehnt sich meine Seele nach dir, Gott.
Meine Seele dürstet nach Gott, nach dem lebendigen Gott…“
Mit Bezug zu Rod Stewarts „Sailing“
Ich hatte es schon angekündigt. Wir singen es heute gemeinsam. Und es wird Teil der Predigt sein:
Sailing. Rod Stewarts Song über das Segeln, über Heimkehr und Weite.
Vielleicht geht es Ihnen wie mir. Irgendwie berührt Sie etwas bei diesem Lied.
Eine Sehnsucht, die Sie nicht genau benennen können.
Die Melodie, die von Aufbruch erzählt und gleichzeitig von Ankunft.
Gavin Sutherland, der dieses Lied ursprünglich schrieb, sagte etwas Erstaunliches darüber:
„Die meisten Leute denken, es geht um einen Mann, der übers Meer zu seiner Geliebten segelt. Aber das stimmt nicht.
Es ist die Geschichte der spirituellen Odyssee des Menschen auf seinem Weg zur Freiheit und Erfüllung.“
Genau diese Odyssee beschreibt auch der Psalmdichter vor dreitausend Jahren.
Psalm 42 beschreibt die spirituelle Sehnsucht als eine Kraft, die uns trägt und uns lebendig macht.
Genau wie Rod Stewarts „Sailing“ erzählt der Psalm von einer Odyssee, die uns verwandelt, auch wenn wir noch unterwegs sind.
„So wie ein Hirsch sich streckt zum Wasserlauf, so strecke ich mich aus nach dir, Gott.
Meine Seele sucht nach Gott, nach dem lebendigen Gott!“
Die Sehnsucht
Stellen Sie sich diesen Hirsch vor.
Ein Geschöpf in der Weite einer Steppenlandschaft, das die Quelle sucht.
Sein ganzer Körper ist ausgerichtet auf dieses eine: frisches Wasser finden.
So beschreibt der Psalm unsere Seele.
Diese ganze Person, die Sie sind.
Mit unseren Sehnsüchten und Träumen, unseren Hoffnungen und unseren Fragen.
Kennen Sie dieses Sich-Ausstrecken?
Dieses Suchen?
Nach einem Moment der Ruhe.
Nach einem guten Wort.
Nach einem Tag, an dem alles sich leichter anfühlt.
Nach Leben, das sich anfühlt wie Leben.
Nach etwas, das größer ist als wir selbst.
Diese Sehnsucht ist nicht das Problem.
Sie ist das Zeichen, dass wir lebendig sind.
Aber dann kommt auch der Bruch:
„Meine Tränen sind mein Brot bei Tag und bei Nacht. Denn man sagt ständig zu mir: Wo ist er denn nun, dein Gott?“
Die Sehnsucht wird manchmal nicht gestillt.
Die Sehnsucht scheint auf Leere zu treffen.
Aber manchmal entstehen die echtesten Momente gerade dann,
wenn wir uns am verletzlichsten fühlen.
Wenn wir nicht mehr versuchen, perfekt zu sein,
sondern einfach nur echt.
So war es auch bei der Entstehung dieses Songs.
Rod Stewart. Rockstar. Nachtmensch durch und durch.
Steht morgens um halb elf im Studio in den Muscle Shoals Studios.
Früh. Für ihn sehr früh.
Der Produzent Tom Dowd hatte ihn aus dem Bett geklingelt.
„Komm sofort ins Studio“, hatte er gesagt.
Keine Zeit für Aufwärmen, keine Zeit für Rockstar-Allüren.
Vor ihm saßen die Muscle Shoals Rhythm Section.
Seine Band für diese Nummer.
Allesamt Legenden.
Musiker, die mit Aretha Franklin und Wilson Pickett gearbeitet hatten.
Stewart sagte später: Er war eingeschüchtert. Nervös.
Und genau da, in dieser Verletzlichkeit, in dieser ungeschützten Morgenstunde, sang er „Sailing“ in wenigen Takes ein.
Nicht perfekt. Aber Authentisch.
Die Schwellenzeit
Das Lied singt vom Fliegen wie ein Vogel über das Meer. Von einer Bewegung, die uns über das Gewöhnliche hinausträgt.
Von Freiheit und Weite.
Die Sutherland Brothers, die „Sailing“ komponierten, wollten dem Lied einen „keltischen Klang“ geben.
Etwas von dieser alten Weisheit, die um die Übergänge weiß. Um das Dazwischen.
Es ist ein Lied für die Schwellenzeiten im Leben. Momente zwischen Tag und Nacht.
Zeiten zwischen dem Alten und dem Neuen.
Unterwegs sein ist der Ort, wo das Leben sich ereignet.
„Sailing“ wurde zum Soundtrack für genau solche Momente.
Abschiede. Neuanfänge. Aufbrüche ins Ungewisse.
Menschen haben es gespielt, wenn sie Heimat verlassen mussten.
Wenn sie einen neuen Lebensabschnitt begannen.
Das Lied weiß: Unterwegs sein gehört zum Menschsein dazu. Immer schon. Seit Jahrtausenden.
„I am flying, I am flying, like a bird across the sky“, heißt es weiter im Lied.
Segeln und Fliegen – beides Bilder für eine Bewegung, die uns über das Gewöhnliche hinausträgt.
Wann haben Sie diese Sehnsucht gespürt? Vielleicht beim Blick aus dem Fenster heute Morgen.
Die Weite des Himmels, die plötzlich größer war als alles, was Sie beschäftigt.
Ein Moment, in dem das Fenster zum Rahmen wurde für etwas, das Sie nicht greifen können, aber spüren.
Der Psalm spricht vom „lebendigen Gott“. Nicht von einer Idee oder einem Prinzip, sondern von einer Kraft, die lebendig macht.
Leben, das sprudelt wie eine Quelle. Leben, das trägt wie der Wind unter den Segeln.
Diese Kraft ist da.
Sie ist der Grund, auf dem Sie stehen, auch wenn der Boden manchmal wackelt.
Sie ist der Horizont, der bleibt, auch wenn Sie den Blick senken.
Spiritualität ist keine Flucht aus dem Leben, sondern eine Vertiefung hinein.
Eine Odyssee zu sich selbst durch etwas, das größer ist als wir selbst. Der Weg übers Meer zurück nach Hause.
Die Hoffnung
Woher kommt eigentlich diese Sehnsucht?
Diese Unruhe in uns, die uns nicht zur Ruhe kommen lässt? Diese Suche nach dem Mehr, nach dem Größeren, nach dem, was trägt?
Augustinus, der große Kirchenvater, hat es vor 1600 Jahren so gesagt:
„Unruhig ist unser Herz, bis es Ruhe findet in dir, o Gott.“
Unruhig ist unser Herz.
Das ist keine Krankheit. Das ist keine Schwäche. Das ist Gottes Spur in uns.
Gott hat diese Sehnsucht in unser Herz gelegt.
Wie eine Kompassnadel, die nach Norden zeigt.
Wie ein innerer Kompass, der uns ausrichtet auf das Lebendige.
Die Sehnsucht ist nicht das Zeichen, dass uns etwas fehlt. Sie ist das Zeichen, dass wir für mehr geschaffen sind.
Dass da eine Kraft in uns wirkt, die größer ist als wir selbst.
Und dennoch sagt der Psalmbeter zu sich selbst:
„Warte nur auf Gott! Ja, ich werde ihm noch danken. Er ist die Rettung für mich, er ist mein Gott.“
Hören Sie, was er nicht sagt?
Nicht: Ich bin angekommen.
Nicht: Ich habe die Antwort gefunden.
Nicht: Ich habe keine Fragen mehr.
Sondern: Ich werde noch. Ich warte. Ich bleibe dran.
Das ist der Mut unserer spirituellen Odyssee. Die Sehnsucht nicht wegzudrücken, sondern als Gottes Ruf zu verstehen.
Zu segeln, ohne genau zu wissen, wo das Ufer ist – aber zu vertrauen, dass die Sehnsucht selbst schon Gottes Antwort ist.
Das ist schon segeln. Das ist schon unterwegs sein. Das ist schon vertrauen, dass die Sehnsucht selbst der Weg ist.
Wie der Hirsch, der dem Duft des Wassers folgt, lange bevor er die Quelle sieht.
Wie das Lied, das die Weite des Meeres besingt und dabei von Heimkehr träumt.
Nach Hause
Rod Stewart singt davon, nach Hause zu segeln, über das Meer. Zu jemandem hin.
Zu wem? Der Liedtext bleibt offen.
Der Psalmbeter ist konkreter: „Ich strecke mich aus nach Gott, nach dem lebendigen Gott.“
Was bedeutet „nach Hause“?
Nicht ein Ort, sondern eine Gegenwart. Nicht ein Ankommen, sondern ein Getragenwerden.
Der lebendige Gott ist nicht das Ziel am Ende der Reise. Er ist die Kraft, die uns trägt, während wir noch unterwegs sind.
Sie sind unterwegs. Das ist nicht das Problem. Das ist nicht der Mangel. Das ist das Leben selbst.
Ihre Sehnsucht ist nicht das Zeichen, dass etwas fehlt. Sie ist das Zeichen, dass Sie lebendig sind.
Dass da eine Kraft in Ihnen wirkt, die größer ist als alle Begrenzung.
Am Ende des Liedes heißt es nicht „I am sailing“, sondern „We are sailing“.
Wir.
Nicht: Ich segele einsam übers Meer.
Sondern: Wir sind unterwegs. Gemeinsam.
Gleich werden wir dieses Lied zusammen singen. Und vielleicht spüren Sie dann: Diese Odyssee machen wir nicht allein.
Hier, in diesem Raum. Auf diesem Wasser des Lebens.
Mit dieser Sehnsucht nach dem Lebendigen, die uns trägt, auch wenn wir noch nicht angekommen sind.
Heute. Hier. Gemeinsam.
Amen.
Quellenverzeichnis:
Bibeltext:
Psalm 42,2-6 nach BasisBibel. Die Bibel. © 2021 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart. Online: www.die-bibel.de
Lied „Sailing“:
Text und Musik: Gavin Sutherland (1972), bekannt durch Rod Stewart (1975)
Hintergrundinformationen
Gavin Sutherland zur Bedeutung des Songs:
Scottish Daily Express (1975), zitiert in: Wikipedia: „Sailing (Sutherland Brothers song)“
URL: https://en.wikipedia.org/wiki/Sailing_(Sutherland_Brothers_song)
Zitat: „The song’s got nothing to do with romance or ships; it’s an account of mankind’s spiritual odyssey through life on his way to freedom and fulfillment with the Supreme Being.“
Rod Stewarts Aufnahmesession in Muscle Shoals:
Mail on Sunday’s Live Magazine (2010), zitiert in: Songfacts – „Sailing by Rod Stewart“
URL: https://www.songfacts.com/facts/rod-stewart/sailing
Details: Aufnahme 10:30 Uhr morgens, Tom Dowd als Produzent, 6-7 Takes
Muscle Shoals Rhythm Section:
Wikipedia: „Muscle Shoals Rhythm Section“
URL: https://en.wikipedia.org/wiki/Muscle_Shoals_Rhythm_Section
Musiker: Roger Hawkins, Barry Beckett, Jimmy Johnson, David Hood
Zusammenarbeit mit Aretha Franklin, Wilson Pickett, Percy Sledge
„Celtic feel“ des Songs:
Wikipedia: „Sailing (Sutherland Brothers song)“
URL: https://en.wikipedia.org/wiki/Sailing_(Sutherland_Brothers_song)
Fragen zur persönlichen Reflexion
für das eigene Nachdenken,
das Tagebuch
oder ein vertrauensvolles Gespräch
- Welcher Moment der letzten Woche fühlte sich an wie „Wind unter den Segeln“?
- Wann in Ihrem Leben war die Sehnsucht nach Transzendenz am stärksten spürbar?
Meditativer Nachklang
Du Kraft, die trägt wie Wind und Wasser,
Du Sehnsucht, die in uns wohnt,
Du Horizont, der uns ruft –
lass uns spüren:
Wir sind unterwegs zu Dir,
und Du bist unterwegs zu uns.
In der Weite des Meeres
und in der Stille unseres Herzens
finden wir Dich –
und werden gefunden.
Amen.
Für alle, die Lust haben auf mehr: Gedanken und Bausteine,
die übrig blieben beim Vorbereiten
Manchmal bleiben beim Vorbereiten der Andachten
oder Predigten ein paar Gedankensplitter übrig.
Sie passen irgendwie nicht so richtig hinein,
aber sie sind zu schade, sie zu vergessen.
Hier finden Sie etwas davon.

Psalm 42 als Pilgerlied
Dieser Psalm gehört zu den sogenannten Korachpsalmen, möglicherweise Lieder für den Tempelbesuch.
Die Sehnsucht ist konkret: nach Jerusalem, nach dem Tempel, nach der Gemeinschaft der Feiernden. Universal gesehen: nach dem Ort, wo Himmel und Erde sich berühren.
Inspirierende Fragen:
– Was macht einen Raum zu einem spirituellen Raum?
– Welche Orte in Ihrem Leben sind „heilige Orte“, wo Sie sich Gott nahe fühlen?
Quelle: Vgl. Seybold, Klaus: Die Psalmen, HAT I/15, Tübingen 1996, S. 177-180

Exil und Sehnsucht
Der historische Kontext: Menschen im babylonischen Exil haben wahrscheinlich diesen Psalm geschrieben. Sie sehnen sich nach Jerusalem. Fern vom Tempel, fern von Heimat. Die Sehnsucht ist geografisch – und zugleich existentiell. Heimweh als Seelensprache.
Inspirierende Fragen:
– Was wäre Ihre „Heimkehr“ – wohin sehnen Sie sich zurück?
– Wo in Ihrem Leben fühlen Sie sich „im Exil“ – fern von sich selbst?
Quelle: Kraus, Hans-Joachim: Psalmen 1-59, BK XV/1, Neukirchen-Vluyn 1978, S. 468-474