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Ein Gedanke zur Vaterunser-Reihe


13. August 2025: „Die Kunst der Selbst-Vergebung“. Ein Gedanke zur Vaterunser-Reihe

Die Kunst der Selbstvergebung

Es ist ein kurzer Satz, kaum länger als ein Atemzug: „Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben …“
Und doch steckt darin eine ganze Lebensschule. Vor allem, wenn es um etwas geht, das viele von uns hartnäckig mit sich herumtragen: Scham. Nicht nur das Gefühl, etwas falsch getan zu haben – sondern dieser tiefere Stich: Ich bin falsch.

Schuld und Scham unterscheiden

Die Bibel unterscheidet leise, aber klar: Schuld sagt „Ich habe etwas getan“. Scham flüstert: „Ich bin etwas – und zwar mangelhaft.“
Schuld lässt sich klären, wiedergutmachen, besprechen.
Scham zieht den Blick nach unten, macht stumm, isoliert.
Deshalb beginnt diese Bitte so befreiend mit dem uns. Nicht „meine“ Schuld – unsere. Das Gebet bricht die Einsamkeit der Scham. Wir stehen nicht als Einzelkämpfer vor Gott, sondern als Menschen, verwoben ineinander, alle bedürftig, alle geliebt.

Schuld braucht Vergebung –
Scham braucht Würde.

Genesis lesen: Gott kleidet, wo Scham entblößt

Die alte Geschichte aus dem Garten Eden erzählt es zart: Nachdem Adam und Eva die Grenze überschritten haben, schämen sie sich. Und Gott? Er beschämt sie nicht zusätzlich. Er macht ihnen Kleider und legt sie ihnen an. Kein Spott, kein „Wie konntet ihr nur“, sondern Schutz für die nackte Verwundbarkeit.
Diese Geste ist Evangelium pur: Gott kleidet, wo Scham entblößt.
Er stellt Würde wieder her, bevor er Worte macht.

Gott beschämt nicht;
er bekleidet die Beschämten.

Innere Stimmen und die Kunst der Selbstvergebung

Das hilft, den Unterschied zu spüren:

  • Schuld braucht Vergebung.
  • Scham braucht Würde – eine neue Stimme über meinem Leben.

Vielleicht kennen Sie die inneren Stimmen, die anspringen, wenn etwas misslingt: „Typisch du. Nie schaffst du das.“ Das sind nicht Gottes Sätze. Das sind alte Echos – von früheren Blicken, Lehrsätzen, Erwartungen.

„Das Erstaunliche an der Vergebung ist nicht, dass Gott uns vergibt,
sondern dass er uns lehrt, uns selbst zu vergeben.“

Paul Tillich zugeschrieben (Quelle unsicher)

Denn seien wir ehrlich: Wer ist schärfer mit uns als wir selbst? Wer kennt unsere Fehler besser? Wer hält uns länger gefangen in dem, was war?
Die Bitte des Vaterunsers lädt ein, diese Stimmen an die Hand zu nehmen und sie dorthin zu bringen, wo sie sich verwandeln dürfen.

Taulers Bild: Mist wird zu Dünger

Der Mystiker Johannes Tauler hat ein derbes, hilfreiches Bild dafür gefunden. Er spricht vom eigenen „Mist“ – allem, was wir an Mängeln und Unfertigem mit uns herumtragen.
Tauler sagt nicht: „Entsorge das endlich!“ Er sagt:

„Trag deinen Mist auf den Acker der Liebe Gottes.“

Johannes Tauler

Mist ist kein Müll. Er wird zu Dünger, wenn er ans Licht kommt und dem Boden anvertraut wird. Das ist kein billiges Schönreden, sondern die Kunst der Gelassenheit: ich muss mich nicht erst perfektionieren, um angenommen zu sein.

Paulus: Schwachheit als Ort der Kraft

Auch Paulus kannte Schamgründe – Schwächen, Missverständnisse, Angriffe. Und er kehrt das Unerwartete nach vorne: „Wenn ich schwach bin, bin ich stark.“ (2 Kor 12,9–10)
Nicht die glänzende Selbstdarstellung, sondern die angenommene Verletzlichkeit wird zum Ort, an dem Gottes Kraft aufblüht. Selbstvergebung heißt dann nicht: „Es war doch gar nicht schlimm.“ Selbstvergebung heißt: „Es war schwer – und ich lasse mich nicht mehr von diesem einen Moment definieren.“

Ein biblischer Akzent als Übung

Ein kleiner biblischer Akzent hilft als Übung: „Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir unseren Schuldigern vergeben.“

  1. Benennen: Nicht ausweichen. Was war mein Anteil? Was davon ist Schuld – was Scham?
  2. Bekleiden: Bilder helfen. Stellen Sie sich vor: Eine warme, schlichte Decke wird Ihnen umgelegt. Nicht um zu verstecken, sondern um zu schützen. „Gott kleidet mich in Würde.“
  3. Wandeln: Wo Scham sitzt: eine neue Stimme einüben. Kein Hochglanz-Mantra, sondern ein nüchterner Satz: „Ich bin mehr als mein Fehler.“
  4. Teilen: Das „uns“ ernst nehmen. Mit einem vertrauten Menschen beten, reden, schweigen. Scham verliert Macht, wenn sie nicht mehr allein sein muss.

Wahrheit und Würde in Balance

Und ja: Es gibt Grenzen. Selbstvergebung ohne Wahrheit verflacht. Aber Wahrheit ohne Würde zerbricht. Das Vaterunser hält beides zusammen: Es nimmt Schuld ernst – und stellt zugleich Würde wieder her.
Vielleicht ist das die Hauptarbeit: lernen, so über sich zu sprechen, wie die Liebe spricht.
Nicht kleinredend. Nicht großspurig. Wahr – und freundlich.

Selbstvergebung beginnt, wenn ich lerne,
so über mich zu sprechen, wie die Liebe spricht.

Schlussbild: Den Mist auf Gottes Feld kippen

Am Ende bleibt ein schlichtes Bild: Du trägst deinen „Mist“ nicht mehr heimlich im Rucksack. Du kippst ihn auf Gottes Feld. Vertraue es Gott an. Und irgendwann wächst dort etwas, das du nicht geplant hattest: ein leiser Mut. Ein wenig Gelassenheit. Und die Fähigkeit, auch anderen nicht die Scham zu vermehren.

Und vergib uns unsere Schuld … – damit wir anfangen können, uns selbst in deinem Licht zu sehen.

Fragen
für das eigene Nachdenken,
das Tagebuch,
oder ein vertrauensvolles Gespräch

Meditativer Nachklang
Vergib mir, vergib uns


Du, Lebensgrund, der uns kleidet,
ich lege mein verwundetes Herz in deine Hände.

Was sich an mir zusammenzieht – löse es.
Was mich beschämt – bedecke es mit Würde.

Lehre mich den Satz, der trägt:
Ich bin mehr als mein Fehler.

Zeig mir den Weg der kleinen Schritte,
vom harten Urteil zur freundlichen Wahrheit.
Nimm meinen „Mist“ – mach ihn zu Boden,
auf dem Neues wachsen darf.

Und wenn ich schwach bin,
wohne du in mir mit deiner Kraft.

Amen.

Für alle, die Lust haben auf mehr: Gedanken und Bausteine, die übrig blieben beim Vorbereiten

Manchmal bleiben beim Vorbereiten der Andachten oder Predigten ein paar Gedankenspltter übrig. Sie passen irgendwie nicht so richtig hinein, aber sie sind zu schade, sie zu vergessen.
Hier finden Sie etwas davon.

54blog

Das Pluralwort nimmt der Schuld und auch der Scham ihre Vereinzelung: Ich stehe nicht als Sonderfall da, sondern als Mensch unter Menschen. Es öffnet den Blick für verstrickte, auch strukturelle Dimensionen von Schuld – jenseits bloß privater Moral. Und es schafft einen Ton der Solidarität: Wir bitten miteinander und lernen, einander die Würde zu lassen

31blog

Gott sagt zu Paulus: „Lass dir an meiner Gnade genügen; denn meine Kraft kommt in Schwachheit zur Vollendung“
Und Paulus ergänzt:
„Denn wenn ich schwach bin, dann bin ich stark.“ (2 Kor 12,9–10)

Paulus kehrt die Logik der Beschämung um: Schwachheit wird nicht versteckt, sondern zum Ort der erfahrbaren Kraft Gottes. Das entzieht toxischer Scham die Bühne, weil Wert nicht mehr an Leistung hängt, sondern an Beziehung. So wird das Bekenntnis der Begrenzung nicht Demütigung, sondern Eingang in Würde.