20. August 2025: „Das Geschenk der Ehrlichkeit“. Ein Gedanke zur Vaterunser-Reihe
20. August 2025: „Das Geschenk der Ehrlichkeit“. Ein Gedanke zur Vaterunser-Reihe
Eine Predigt über die Versuchung, das Böse und die eigenen Grenzen
1. Die Bitte, die alles verändert
„Und führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Bösen“ (Matthäus 6,13)
Schauen wir zunächst auf diesen ersten Teil: Und führe uns nicht in Versuchung.
Es lohnt sich auch hier genau hinzuschauen. Die Muttersprache Jesu war aramäisch. So lehrte er das Gebet. Lukas und Matthäus, die uns von diesem Gebet in der Bibel erzählen, schrieben in Griechisch. Und wir beten auf Deutsch. Das heißt: in der Übersetzung der Übersetzung.
Das aramäische Wort, das Jesus ursprünglich verwendete, ist sanfter als unsere deutsche Übersetzung. Es bedeutet weniger „führe uns nicht hinein“ als vielmehr „lass uns nicht hineinfallen“. Wie jemand, der sagt: „Halte mich fest, damit ich nicht stürze.“
Damit wird auch deutlich, um was es geht: Versuchung ist nicht das, was wir oft darunter verstehen. Nicht die Schokolade im Kühlschrank. Nicht die kleine Unwahrheit, die das Leben einfacher macht.
Versuchung, wie Jesus sie meint, ist existenzieller. Es ist die Bedrohung des Vertrauens selbst. Der Moment, in dem das Leben so schwer wird, dass Glauben unmöglich scheint. Die Stunde, in der Hoffnung stirbt und Bitterkeit geboren wird.
Es geht nicht um moralische Fehler. Es geht um Lebenssituationen, die das Risiko des Unglaubens enthalten. Um Krisen, die unser Fundament erschüttern. Um Momente, in denen wir rufen: „Lass mich bitte nicht alleine, Gott!“ Da brauchen wir diese Bitte.
2. Gott als Bergungsort
Trotzdem bleibt ja diese Irritation: „Führe uns nicht in Versuchung“ – das klingt, als könnte Gott ein Versucher sein. Als wäre der Himmel unzuverlässig. Als müssten wir Gott davon abhalten, uns zu schaden.
Aber das aramäische Verständnis ist anders. Es ist weniger eine Warnung als eine Bitte um Schutz. Weniger Misstrauen als Vertrauen. Es ist wie die Bitte eines Kindes, das sagt: „Halt mich fest im Sturm.“ Oder wie die Worte eines Menschen, der ruft: „Lass mich nicht allein in der Dunkelheit.“
Diese Bitte erkennt in Gott den Bergungsort, der uns trägt. Den liebenden Grund allen Seins. Das Gegenüber, das auch unser Scheitern aushält.
3. Die Weisheit der Schwäche
Und diese Bitte ist ein Geschenk an uns. Ein Geschenk der Ehrlichkeit. Sie erlaubt uns zu sagen: „Ich bin nicht allmächtig.“
Sie gibt uns die Erlaubnis zur Zerbrechlichkeit. In einer Welt, die Stärke vergöttert und Schwäche verachtet, ist das etwas besonderes. Hier müssen wir uns nicht als Heldinnen und Helden inszenieren. Hier können wir Menschen sein. Echte, verwundbare, hilfsbedürftige Menschen.
Die Mystikerin Teresa von Ávila schrieb:
„Die Seele findet ihre Stärke, wenn sie ihre Schwäche anerkennt.“
(Teresa von Ávila, Die innere Burg, 4. Wohnung)
In dieser Bitte liegt eine ähnliche Weisheit. Sie macht uns nicht kleiner. Sie macht uns wahrer. Und schließlich auch stärker.
4. Das Böse und seine Macht
Schauen wir noch auf den zweiten Teil dieser Bitte: „Erlöse uns von dem Bösen.“
Das aramäische Verständnis kennt zwei Gesichter des Bösen. Manchmal sind diese Kräfte außerhalb von uns. In den Strukturen, die Menschen zerbrechen. In den Systemen, die Ungerechtigkeit schaffen. In den Umständen, die uns überfordern.
Manchmal sind diese Kräfte in uns. Als Selbstzweifel, der uns lähmt. Als Bitterkeit, die uns vergiftet. Als Verzweiflung, die uns isoliert.
Die Bitte um Erlösung ist die Hoffnung, dass diese Mächte nicht das letzte Wort haben. Die zerstörerischen Kräfte, die unsere Welt so oft prägen. Und die Dunkelheit in uns selbst.
4. Die Gemeinschaft der Verletzlichen
Ein letzter Gedanke.
„Führe UNS nicht in Versuchung.“ „Erlöse UNS von dem Bösen.“
Auch hier steht das kleine Wort „uns“. Wir bitten nicht nur für uns selbst. Wir bitten für alle, die kämpfen. Für alle, die verzweifeln. Für alle, die am Ende ihrer Kraft sind.
Diese Bitte schafft eine Gemeinschaft der Ehrlichen. Eine Solidarität der Verletzlichen.
Sie sagt: „Wir alle brauchen Hilfe.“
Sie flüstert: „Niemand ist allein mit seiner Not.“
Das macht demütig. Aber es macht auch frei. Frei von der Last, perfekt sein zu müssen. Frei von der Last, alles alleine tragen zu müssen.
Amen
Fragen zur persönlichen Reflexion für das eigene Nachdenken, das Tagebuch oder ein vertrauensvolles Gespräch
Wann haben Sie schon einmal eine Zeit überstanden, die Ihnen unmöglich erschien? Welche Kräfte haben Ihnen damals geholfen?
Gibt es Momente in Ihrem Leben, wo Sie sich vollkommen getragen und beschützt gefühlt haben? Wie war das für Sie?
In welchen Traditionen, Geschichten oder spirituellen Erfahrungen finden Sie Kraft, wenn Sie sich überfordert fühlen? Was nährt Ihr Vertrauen?
Meditativer Nachklang Ein Gebet zwischen Furcht und Vertrauen
Liebender Gott, du kennst die Räume unserer Angst. Die Ecken, wo wir uns verstecken. Die Schatten, die größer sind als wir.
Wir bitten dich nicht um ein Leben ohne Versuchung. Wir bitten um ein Leben mit Begleitung. Nicht um Stärke, die niemals bricht. Sondern um Vertrauen, das immer wieder heilt.
In den Stunden, wo das Böse uns umzingelt, sei du unsere Zuflucht. In den Momenten, wo wir straucheln, sei du unser Halt.
Lehre uns die Weisheit der Schwäche. Die Kraft des Loslassens. Die Schönheit des Angewiesenseins.
Erlöse uns nicht von allem Schweren. Sondern erlöse das Schwere in uns. Mache es fruchtbar. Mache es heilig. Mache es zu einem Weg zu dir. Amen.
Für alle, die Lust haben auf mehr: Gedanken und Bausteine, die übrig blieben beim Vorbereiten
Manchmal bleiben beim Vorbereiten der Andachten oder Predigten ein paar Gedankenspltter übrig. Sie passen irgendwie nicht so richtig hinein, aber sie sind zu schade, sie zu vergessen. Hier finden Sie etwas davon.
Führt Gott in Versuchung? Die Diskussion um eine Äußerung von Papst Franziskus
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