Wenn die Seelen-Landschaft wild wird
Psalm 139,19-24
Die ersten achtzehn Verse dieses Psalms sind schön. Fast kitschig schön. Gott, du kennst mich. Du umgibst mich. Eine sanfte Landschaft. Alles ist hell und freundlich.
Und dann, ab Vers 19, reißt etwas auf. „Gott, bring doch die Frevler um!“ Die Stimme wird hart. Unversöhnlich.
Und dann stehen wir mit den folgenden Versen vor einem Dschungel. Wild. Undurchdringlich. Gefährlich.
19 Ach Gott! Ich wünschte mir, dass du die Frevler tötest! Und ihr Mörder, lasst mich doch endlich in Ruhe! 20 Ja, sie widersetzen sich dir in böser Absicht, voller Tücke erheben sie sich, deine Feinde! 21 Sie hassen dich, Herr. Sollte ich sie nicht hassen? Sollte ich deine Widersacher nicht verabscheuen? 22 Ja, ich hasse sie mit aller Leidenschaft. Zu Feinden sind sie für mich geworden. 23 Erforsche mich, Gott, und erkenne mein Herz! Verstehe mich und begreife, was ich denke! 24 Sieh doch, ob ich auf einem falschen Weg bin, und führe mich auf dem Weg, der Zukunft hat!
Quelle: BasisBibel, © Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart www.die-bibel.de
Dürfen wir hineinschauen?
Viele von uns haben gelernt, diesen Teil der Seele zu meiden. Die Wut. Die Aggression.
Gesellschaftlich werden wir dafür oft kritisiert. Kirchlich manchmal auch. „Ein Christ sollte nicht so reden.“ „Du musst vergeben, nicht wütend sein.“
Wir bleiben lieber in der gepflegten Landschaft. Dort ist es sicher.
Aber der Psalm lädt uns ein, auch den Dschungel zu erkunden. Nicht, um dort zu bleiben. Nicht, um uns darin zu verlieren. Aber auch nicht, um ihn um jeden Preis zu meiden.
Denn im Dschungel der Seele wächst etwas, das in der gepflegten Landschaft verkümmert: das wilde, ungezähmte Leben.
Gott lädt uns ein, diesen Ort zu erkunden. Nicht allein. Sondern gemeinsam.
Drei Orte gibt es zu erkunden. Schritt für Schritt. Ohne Eile.
Was wächst im Unterholz der Seele?
Die erste Station ist die Wut. „Gott, bring doch die Frevler um!“, schreit der Psalmist. „Ich hasse sie mit unversöhnlichem Hass.“
Das ist nicht schön und nicht spirituell. Das ist roh.
Aber es ist auch ehrlich.
Die Wut ist der Schutzreflex der Seele. Sie sagt: Bis hierher und nicht weiter.
Ich muss nicht alles akzeptieren. Ich muss nicht jeden Menschen in mein Leben lassen. Ich darf mich selbst schützen.
Wer sind Ihre Feinde? Vielleicht sind es nicht einmal andere Menschen. Vielleicht sind es die Leitsätze Ihres Lebens, die Sie verinnerlicht haben. Sätze wie: Du bist nicht gut genug. Du musst perfekt sein. Du darfst nicht scheitern.
Diese Leitsätze sind Eindringlinge. Sie gehören nicht zu Ihnen. Und der Psalm gibt Ihnen die Erlaubnis, sie zu benennen. Mit aller Härte.
Das ist keine Sünde. Das ist Selbstschutz.
Die Wut ist wie das dichte Unterholz im Dschungel. Sie wirkt bedrohlich. Aber sie schützt auch. Sie zeigt: Hier ist Leben. Hier ist Kraft.
Wo finden Denken und Fühlen wieder zusammen?
Die zweite Station führt tiefer hinein. „Erforsche mich, Gott, erkenne mein Herz“, betet der Psalmist. „Prüfe mich, erkenne mein Denken.“
Das Herz ist in der biblischen Sprache der Ort des Denkens. Das andere hebräische Wort meint wörtlich die Nieren, sie sind der Ort des Fühlens.
Vielleicht kennen Sie die Redewendung: Etwas auf Herz und Nieren prüfen. Sie hat hier ihren Ursprung. In diesem Psalm.
Alles anschauen. Gründlich. Nichts auslassen.
Denken und Fühlen.
Und hier kommt etwas Entscheidendes: Gott hat die Nieren geschaffen. Am Anfang des Psalms hieß es doch schon mal: „Du hast meine Nieren bereitet.“ Das bedeutet: Auch meine Gefühle, ja auch Wut und Zorn, sind Gottes Sache. Sie sind nicht ein Betriebsunfall. Sie sind gewollt. Sie gehören zu mir.
Denken und Fühlen gehören zusammen. Aber oft sind sie getrennt. Das Denken sagt: Ich schaffe das noch. Das Fühlen schreit: Ich kann nicht mehr. Der Psalm lädt zur Integration ein. Gott soll beides prüfen. Denn nur wenn beide gehört werden, finden Sie den Weg, der Ihnen dient.
Der Psalm sagt: Sie müssen diese Integration nicht allein schaffen. Gott will Ihnen helfen, die beiden Stimmen wieder zusammenzubringen. Denn Gott hat beide geschaffen. Und Gott kennt beide.
Am tiefsten Ort des Dschungels
Der Psalm endet mit diesen Worten:
Erforsche mich, Gott, erkenne mein Herz, prüfe mich, erkenne mein Denken! Sieh, ob ich auf einem Weg bin, der dir Schmerzen bereitet, leite mich auf dem Weg, der ewig trägt! (Psalm 139,23-24, BasisBibel)
Nach zweiundzwanzig Versen Intimität mit Gott sagt der Beter: Schau noch mal hin. Ich durchschaue mich selbst nicht.
Das ist keine Schwäche. Das ist Ehrlichkeit.
Diese radikale Bitte: Sieh mich an. Ganz. Mit meiner Wut. Mit meiner Verwirrung. Mit meinen komplizierten Gefühlen. Mit allem, was in mir ist.
Am tiefsten Ort des Dschungels meiner Seele ist noch einmal Gott. Aber hier ist auch er anders. Wir erkennen etwas an Gott, was wir oft ausblenden. Wilder. Leidenschaftlicher. Ungezähmt. Ein Gott, der Partei ergreift.
Und gerade deshalb ganz zugewandt bleibt. Gerade hier.
Gott sieht mich und verwirft mich nicht. Gott kennt mein Herz und meine Nieren und hält seine Hand über mir. Gott weiß um meine Wut, meine Zweifel, meine Dunkelheit und bleibt.
Das bedeutet nicht, dass alles an mir gut ist. Es bedeutet nicht, dass ich keine Korrektur brauche. Der Psalm bittet ja ausdrücklich: Zeig mir, wo ich falsch abbiege. Leite mich.
Aber diese Korrektur kommt nicht als Verdammung. Sie kommt als Führung. Gott sagt nicht: Du bist falsch. Gott sagt: Du gehst einen Weg, der dich zerstört. Lass mich dir einen anderen zeigen.
Im Dschungel der Seele können wir uns verlaufen. Aber wir sind nicht allein. Gott geht mit. Und Gott kennt den Weg hinaus.
Was bleibt
Der Dschungel der Seele ist kein Ort, an dem wir dauerhaft leben sollten. Aber er ist der Ort, an dem das wilde, ungezähmte Leben wächst. Die Wut, die uns schützt. Die Gefühle, die uns leiten.
Gott lädt uns ein, diesen Ort zu erkunden. Nicht allein. Sondern gemeinsam.
Sie dürfen wütend sein auf das, was Ihnen schadet. Sie dürfen sich zeigen, wie Sie sind, mit all Ihren komplizierten Gefühlen. Sie dürfen sich Gott anvertrauen, auch dort, wo Sie Korrektur brauchen.
Denn das Gesehen-Werden durch Gott ist keine Bedrohung. Es ist Befreiung.
Es ist Befreiung.
Fragen zur persönlichen Reflexion
für das eigene Nachdenken,
das Tagebuch
oder ein vertrauensvolles Gespräch
- Welche Leitsätze Ihres Lebens schaden Ihnen – und wie könnten Sie sich davon abgrenzen?
- Hören Sie gerade mehr auf Ihr Denken oder auf Ihr Fühlen – und was würde die andere Seite Ihnen sagen?
Meditativer Nachklang
Im Dickicht
Gott,
du kennst die wilden Orte in mir.
Die Wut, die ich nicht zeigen darf.
Die Gefühle, die ich nicht verstehe.
Die Leitsätze, die mich gefangen halten.
Du hast mein Herz geschaffen.
Du hast meine Nieren bereitet.
Nichts an mir ist dir fremd.
Hilf mir, auch die dunklen Orte zu erkunden.
Nicht allein.
Sondern mit dir.
Zeig mir, wo ich mich selbst zerstöre.
Und leite mich auf dem Weg, der mir dient.
Amen.


