Predigt zu
Psalm
139:
13-18

13Ja, du hast meine Nieren geschaffen,
mich im Bauch meiner Mutter gebildet.
14Ich danke dir und staune, dass ich so wunderbar geschaffen bin.
Ich weiß, wie wundervoll deine Werke sind.
15Nichts war dir unbekannt am Aufbau meines Körpers,
als ich im Verborgenen geschaffen wurde –
ein buntes Gewebe in den Tiefen der Erde.
16Ich hatte noch keine Gestalt gewonnen,
da sahen deine Augen schon mein Wesen.
Ja, alles steht in deinem Buch geschrieben:
Die Tage meines Lebens sind vorgezeichnet,
noch ehe ich zur Welt gekommen bin.
17Wie kostbar sind für mich deine Gedanken, Gott!
Wie zahlreich sind sie doch in ihrer Summe!
18Wollte ich sie zählen: Es sind mehr als der Sand
Würde ich erwachen: Noch immer bin ich bei dir.


Das heilige Unfertige

Vor einige Monaten erzählte mir eine Patientin im Anschluß an das Abendgebet,
wie gut ihr das tut.
Aber es gibt eine Stelle,
die für sie schwer ist.
Wenn beim Gebet gesagt wird:
„Ich danke dir, dass ich wunderbar gemacht bin“,
dann kann sie einfach nicht mitsprechen.

Wie soll man „wunderbar“ sagen,
wenn der eigene Körper nicht mehr mitmacht?
Wenn nichts mehr funktioniert, wie es soll?
Wenn man sich selbst fremd geworden ist?

Was sieht Gott, wenn er uns ansieht?

Der Psalmsänger
-denn ursprünglich war dieses Gebet ein Gesang-
wagt in unserem Bibeltext eine ungewöhnliche Formulierung.
Er schaut zurück an den Anfang, in die Zeit vor der Zeit.
Und er entdeckt dort etwas Erstaunliches:

„Noch unfertig erblickten mich deine Augen“, heißt es in Psalm.
Das hebräische Wort, das hier steht,
bedeutet wörtlich: das noch nicht Ausgeformte.
Gott sieht uns, bevor wir fertig sind.
Bevor wir Gestalt annehmen.
Bevor wir irgendetwas leisten können.

Und was tut Gott mit diesem unfertigen Wesen?

Er webt es.
Er stickt es kunstvoll.
Er formt es mit der Sorgfalt eines Künstlers.
„Du hast mich gewebt im Leib meiner Mutter“, sagt der Psalm.
Nicht gehämmert, nicht gegossen, nicht konstruiert.
Gewebt.
Wie einen kostbaren Stoff.
Mit unendlicher Geduld.

Die Revolution des Unfertigen

Hier liegt das Besondere dieses Textes:

Gott wartet nicht, bis wir fertig sind, um uns zu lieben.

Er liebt das Unfertige.
Er sieht Schönheit im Prozess, nicht erst im Produkt.

„Meine Knochen waren nicht vor dir verborgen“, heißt es weiter.
Die Knochen – das Gerüst, die Struktur, das, was uns Halt gibt.
Gott kennt unser Gerüst.
Er weiß, wo es brüchig ist.
Wo alte Brüche schlecht verheilt sind.
Wo die Statik wackelt.
Und wo wir stark sind.

Und trotzdem – nein, gerade deswegen – sagt der Psalmsänger diese unglaublichen Worte:
„Ich danke dir, dass ich auf erstaunliche Weise wunderbar geschaffen bin.“

Nicht: Ich werde wunderbar sein, wenn…
Nicht: Ich war mal wunderbar, bevor…
Sondern: Ich BIN wunderbar geschaffen.
Jetzt.
So.
Unfertig.

Und wenn Sie das nicht sagen können?

Wenn Sie das heute nicht sagen können?
Wenn sich alles in Ihnen dagegen sträubt?
Dann ist das auch heilig.
Dann dürfen Sie schweigen, wo andere sprechen.
Dann spricht Gott vielleicht gerade in Ihrem Schweigen.

Denn „wunderbar“ heißt hier ja gerade nicht: perfekt.
Das hebräische Wort bedeutet eigentlich: zum Staunen.
Etwas, das einen innehalten lässt.
Etwas, das man nicht gleich versteht.

Sie sind zum Staunen.
Nicht weil alles an Ihnen stimmt.
Sondern weil Sie ein Geheimnis sind.
Ein heiliges Rätsel.
Manchmal auch für sich selbst.

Wo wohnt das Heilige?

Wir suchen das Heilige oft in der Perfektion.
Im gesunden Körper.
Im starken Glauben.
Im geordneten Leben.

Aber dieser Psalm erzählt eine andere Geschichte.
Das Heilige wohnt im Verborgenen.
„Als ich im Verborgenen gemacht wurde“, sagt der Text.

Das Heilige braucht kein Scheinwerferlicht.
Es braucht keine Bühne.
Es entsteht im Verborgenen, im Unfertigen, im Verletzlichen.

Ihre Nieren, sagt der Psalm, hat Gott gebildet.
Warum betont er gerade die so sehr?
Nun, in der Vorstellungswelt der Antike
waren die Nieren der Ort der Gefühle.
Wo Angst sitzt und Sehnsucht.
Die Hoffnung und das Staunen.
Auch das hat Gott geformt.
Auch das ist Teil des Gewobenen.

Sie müssen nicht fertig werden

Gott wartet nicht auf Ihre Fertigstellung.
Er ist jetzt schon da.

Sie müssen sich nicht erst fertig machen.
Sie müssen auch nicht „wunderbar“ sagen können.
Sie sind geliebt im Werden.
Nicht trotz Ihrer Unfertigkeit.
Sondern in ihr.

Sie sind kein Projekt, das repariert werden muss.
Sie sind ein Mensch, der geliebt wird.
Genau so.
In Ihrer heiligen Unfertigkeit.

Und Gott, der Weber, legt die Fäden nicht aus der Hand.
Er webt weiter.
Zärtlich.
Geduldig.
An seinem heiligen Unfertigen.

An Ihnen,
an Dir,
an mir.



Fragen zur persönlichen Reflexion
für das eigene Nachdenken,
das Tagebuch
oder ein vertrauensvolles Gespräch

Meditativer Nachklang

Gott, du Geduldiger,
der du das Unfertige liebst:

Lass uns ruhen in deinem Blick,
der uns sieht, bevor wir fertig sind.

Webe weiter an uns
mit deinen zärtlichen Händen.

Und wenn wir erwachen,
lass uns staunen über das Wunder,
dass wir immer noch da sind.

Immer noch bei dir.
Immer noch geliebt.

Amen.

Für alle, die Lust haben auf mehr: Gedanken und Bausteine, die übrig blieben beim Vorbereiten

Manchmal bleiben beim Vorbereiten der Andachten oder Predigten ein paar Gedankensplitter übrig. Sie passen irgendwie nicht so richtig hinein, aber sie sind zu schade, sie zu vergessen.
Hier finden Sie etwas davon.

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Das hebräische Verb „sakak“ ist doppeldeutig – es kann „weben“ oder „beschützen“ bedeuten. Beides schwingt mit: Gott webt uns kunstvoll zusammen UND hält schützend seine Hand über uns.

Weben braucht Zeit, Geduld, Fingerspitzengefühl. Es ist kein Akt der Macht, sondern der Zärtlichkeit. In altorientalischen Texten ist das Weben Frauenarbeit – der Psalm verwendet bewusst dieses mütterliche Bild für Gottes Handeln.

Wo erleben Sie Gott als geduldigen Weber in Ihrem Leben?

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